Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
Selbstmord am frühen Morgen war ein beschissener Start in den Tag. Bald würde es hier nur so wimmeln von Leuten – Polizei, Krankenwagen, jede Menge Fragen und Schlussfolgerungen. Es war am besten, wenn er von hier verschwand, bevor es losging. Noch etwas frische Luft schnappen, bevor der Nebel sich senkte.
15
R affy schlang die Arme ganz fest um sich und zitterte ganz leicht, aber er wusste, dass es nicht an der Kälte lag, wenn er an den Armen und im Nacken Gänsehaut hatte. Er wollte weg hier, wollte einfach gehen, aber er war keiner, der einfach ging. Deshalb hockte er verkrampft und zitternd im Geäst und sah zu, wie Evie etwas über Literatur lernte.
Raffy hasste Neil.
Er hasste ihn, weil er gut aussah, weil er klug war und freundlich. Weil er ein guter Mensch war, dem es nur darum ging, Evie zu helfen. Raffy hasste ihn, weil er selbst kein guter Mensch war und auch nie ein guter Mensch sein würde. Er dachte rational und sah die Welt so, wie sie war. Aber seine Gedanken wurden nicht immer von der Vernunft gesteuert. Manchmal veränderten die Dämonen in seinem Kopf seine Sichtweise, sie verfälschten die Dinge, sodass alles ganz anders und beängstigend wirkte. Dann meinte er zu sehen, wie Evie Neil verzückt ansah und über dessen Witze lachte. Raffy glaubte etwas in ihrem Blick zu entdecken, wie früher, als sie ihn so angesehen hatte: Liebe. Sie war verliebt in Neil. Sie würde ihn wegen Neil verlassen. Neil wartete nur auf den passenden Moment, um sie zu verführen, und sie würde es bereitwillig geschehen lassen und darüber lachen, wie jung und dumm Raffy doch war. Und Raffy wäre allein, einsamer als jemals zuvor in seinem Leben, allein, unglücklich und einsam, und …
Ein Geräusch durchbrach die Stille. Eine Eichel löste sich vom Baum und fiel herunter, weil Raffy eine zu hastige Bewegung gemacht hatte. Er erstarrte. Evie und Neil sahen kurz herüber, wandten sich dann aber wieder ihren Büchern zu. Sie sprachen über die Emanzipation der Frau, über die Entwicklung der Rolle der Frau und über die Möglichkeiten, die sich ihr im einundzwanzigsten Jahrhundert eröffneten.
Evie war so schön. So wunderschön. Sie war es immer gewesen. Raffy musste daran denken, wie er sie mit knapp sechs Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war ziemlich klein gewesen, misstrauisch, mit ihren dunklen Augen blickte sie die anderen Kinder unsicher an, als sie ins Klassenzimmer zu ihren Plätzen geführt wurden und man ihnen sagte, was sie tun sollten. Sie kam nicht gut aus mit den anderen; etwas an ihr war anders, etwas, das sie von den anderen Kindern unterschied, genau wie bei Raffy. Deshalb hatten sie einander gefunden; sie hatten sich in dem anderen wiedererkannt. Und schon damals, als er sie zum ersten Mal hatte lächeln sehen, als dieses breite Grinsen auf ihrem Gesicht erschien, weil er irgendetwas zu ihr gesagt hatte, wollte er nicht, dass jemand anders sie so zum Lachen brachte. Und obwohl er damals noch ein kleiner Junge war, war ihm bereits klar gewesen, dass er sie nicht verlieren wollte, aber dass dies zwangsläufig geschehen würde.
Weil er kein guter Mensch war so wie Neil.
Weil er nicht perfekt war so wie Lucas.
Wie Lucas.
Raffy atmete aus und schloss die Augen. Sein älterer Bruder. Sein ganzes Leben hatte Raffy im Schatten von Lucas gestanden, und auch jetzt hatte er das Gefühl, die Sonnenstrahlen würden nicht bis zu ihm durchdringen. Weil Lucas besser war als er. Edler, großzügiger. Er hatte erlebt, wie Evie mit ihm umgegangen war, in jener Nacht in der Stadt, als sie das System abgeschaltet hatten. Raffy kannte Evie besser als sie sich selbst. Er hatte die verstohlenen Blicke gesehen, ihre Energie, immer wenn die beiden zusammen waren. Außerdem wusste er, dass Lucas auch deshalb in der Stadt geblieben war, damit Raffy und Evie problemlos zusammen sein konnten. Ein selbstloser Akt, genau wie Lucas’ ganzes Leben.
Und deshalb hasste er ihn. Denn Raffy wäre niemals so edel gewesen. Er wollte Lucas’ Großzügigkeit nicht. Er wollte Evie. Er wollte sie so eng an sich binden, dass sie keinen anderen mehr ansah, geschweige denn mit ihm redete oder ihn gar anlächelte. Er wollte sie ganz für sich haben; er war egoistisch und besitzergreifend. Es sollte wieder so sein wie damals in dem Baum, wo sie sich abends immer getroffen hatten. Ihr Alltag war zwar unerträglich gewesen, aber das hatte Raffy nicht gekümmert, denn in den Momenten mit Evie hatte er erkannt, dass sie ihn
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