Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
brauchte. Sie beide gegen den Rest der Welt. Sie waren sich so nah, dass der eine wusste, was der andere sagen wollte. Die Stadt hatte sie, hatte alle unterdrückt, aber Raffy war das im Grunde egal gewesen, weil sie einander dadurch nähergekommen waren. Er würde sein restliches Leben im Gefängnis verbringen, wenn er sicher sein könnte, dass er die Zelle mit Evie teilte.
Und Evie …
Raffy beobachtete, wie sie sich angeregt unterhielt, wild gestikulierte und mit den Augen rollte.
Evie wollte frei sein. Frei von allem.
Auch von ihm.
Raffy wusste es. Er sah es in ihren Augen. Sie war so lange in der Stadt eingesperrt gewesen und hatte sich eingeengt und unglücklich gefühlt. Und jetzt schwebte sie wie auf Wolken und lachte jeden Tag.
Raffys schlimmste Befürchtungen würden sich bestätigen. Schon sehr bald würde Evie erkennen, wie Raffy wirklich war, und dann würde sie ihn verlassen.
Schon bald würde sie erkennen, dass sie ihn nicht brauchte und dass sie ihn eigentlich nie gebraucht hatte.
»Ich sollte dich jetzt gehen lassen«, meinte Neil lächelnd. »Nächste Woche werde ich dich mit Frankenstein bekannt machen, einem von Menschenhand erschaffenen Monster. Da du aus der Stadt kommst, findest du es vielleicht passend.«
Evie stand auf. »Danke«, sagte sie ernst. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie verblüffend es ist, zu … zu …«
»Zu erkennen, wie viel es noch zu entdecken gibt? Wie viele begabte Menschen so unglaubliche Dinge geschrieben haben, so außergewöhnliche Ideen hatten und den Mut aufbrachten, ihre Überzeugungen zu veröffentlichen?«
Evie nickte glücklich. Neil schaffte es immer, die Gedanken, die ihr im Kopf herumschwirrten und die sie verzweifelt auszudrücken versuchte, in Worte zu fassen.
Neil zuckte die Schultern. »Ich wünschte nur, wir hätten hier noch mehr Bücher. Aber sie waren im Grunde nicht wichtig. Beim Überlebenskampf, meine ich. Kurzsichtige Idioten haben Nahrung und Wasser über das geschriebene Wort gestellt.« Er grinste. »Aber noch haben wir genug Bücher. Und wer weiß? Vielleicht kommt ja eines Tages jemand mit einer ganzen Bibliothek hier vorbei, die irgendwo vergraben war. Man kann ja nie wissen, stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte Evie, und ihre Augen funkelten. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich in Neils Gesellschaft entspannen konnte, bis sie seine ständigen ironischen Bemerkungen verstand und bis sie begriff, dass er nicht deshalb aufgeregt war und eine Frage nach der anderen stellte, weil sie etwas falsch verstanden hatte oder weil er ihretwegen frustriert war, sondern weil er ebenso wie sie erpicht darauf war, Antworten zu finden. Mittlerweile genoss sie es, Zeit mit ihm zu verbringen, über die Feinheiten eines Buches, das sie gelesen hatte, zu sprechen und stundenlang darüber zu diskutieren.
»Also dann, bis nächste Woche.« Neil winkte ihr zu und schlenderte in Richtung Zentrum davon, wo er sich auf dem Rasenplatz der Siedlung mit Freunden noch auf einen Drink treffen wollte. Evie wusste das, weil er sie schon mehrmals dazu eingeladen hatte. Er meinte, sie solle Raffy mitbringen und dass sie beide willkommen seien. Aber sie hatte abgelehnt, weil sie wusste, was Raffy sagen würde. Sie wollte keinen Streit, wollte sich die Enttäuschung ersparen, wenn sich ihre Befürchtungen bestätigten und er sich weigerte, mitzukommen oder sie allein gehen zu lassen.
Vielleicht würde ja alles anders, wenn sie erst verheiratet waren, sagte sie sich.
Vielleicht würde er dann endlich begreifen, dass sie zu ihm gehörte, dass sie nirgendwo hingehen wollte und dass sie ihn liebte.
Evie machte sich auf den Heimweg. Sie liebte Raffy wirklich. Sie hatte ihn schon immer geliebt. Und doch … Sie seufzte. Plötzlich hörte sie etwas und blieb stehen. Ein Geräusch in dem Baum über ihr. Ein Vogel vielleicht? Nein, es musste etwas Größeres sein. Sie spähte nach oben, nicht sicher, wonach sie eigentlich suchte, aber sie hatte es auch nicht eilig, nach Hause zu kommen. Plötzlich begegnete sie Raffys Blick, und der Mund blieb ihr offen stehen. Sie sah, wie er rot wurde, von dem Baum heruntersprang und mit ausgestreckten Armen auf sie zurannte.
»Evie!« Er lächelte verlegen, dann verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, und sie sah die Furcht in seinen Augen. Schließlich versuchte er, die Sache herunterzuspielen. »Evie, komm schon. Ich war nur … nur …«
Evie starrte ihn an und versuchte zu begreifen, was hier vor sich ging. »Wie …
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