Das letzte Zeichen (German Edition)
zu hell gewesen – selbst in der Höhle, die sie gefunden hatten. Außerdem waren da seltsam pfeifende Geräusche um sie herum, die ihr Angst eingejagt hatten. Gern hätte sie sich näher an Raffy gekuschelt, um Trost und Schutz zu finden, aber Raffy spendete keinen Trost – da waren nur Wut und Hohn.
»Also, was jetzt?«, fragte er und blickte überheblich auf sie herab. »Sollen wir noch ein bisschen rennen? Oder hier bleiben und warten, bis wilde Tiere uns zerfleischen? Was hat Lucas gesagt? Oder ging sein Plan nicht so weit?«
Evie schloss die Augen und blinzelte die Tränen weg, die ihr in den Augen brannten. Sie hatte gehofft, dass der Schlaf helfen und dass Raffy ruhiger würde. Aber er schien sogar noch wütender zu sein. Sie hatte es satt, sich zu streiten. Sie stritten, seit sie die Stadt verlassen hatten – darüber, ob sie nach Norden gehen sollten oder nicht; darüber, ob Lucas ihnen nur zur Flucht verholfen hatte, um sie loszuwerden; darüber, wie viel Wasser sie trinken sollten. Dann war langsam die Sonne aufgegangen, und sie hatten sich darüber gestritten, ob sie weiterlaufen oder sich ein Versteck suchen sollten. Schließlich hatte Evie sich durchgesetzt, und sie hatten nach einem geschützten Platz Ausschau gehalten, wo sie sich ausruhen konnten, bis die Nacht anbrach. Schweigend hatten sie die Höhle ausgewählt. Schweigend hatten sie gegessen und getrunken. Raffy hatte sie kaum angesehen und schließlich verkündet, dass sie nun schlafen sollten, und sich mit dem Rücken zu ihr zusammengerollt.
Das Land, durch das sie gegangen waren, war seltsam gewesen und erschreckend wie ein Fiebertraum. Häuser, die ganz von Bäumen überwuchert waren, zerbröckelte Straßen, riesige graue, leblose Landstriche, die sich endlos weit zu erstrecken schienen, und wieder verfallene Gebäude. Hatten hier einmal Menschen gelebt? Hatten sie Kinder aufgezogen, waren sie zur Arbeit gegangen und hatten gelebt, ohne zu ahnen, dass ihnen die Vernichtung bevorstand? Waren sie geflohen, bevor die Schreckenszeit begann, oder waren sie von den Bomben überrascht worden? Diese Fragen hatte Evie den Lehrern in der Schule gestellt, diese Fragen hatten ihr keine Ruhe gelassen. Doch sie hatte nie eine Antwort bekommen; die Lehrer waren nicht in der Lage oder nicht gewillt, zu antworten. Die Menschen hätten die Schreckenszeit selbst über sich gebracht, sagten sie. Die Menschen seien durch ihre Amygdala zum Schlechten verleitet worden; sie seien der Gewalt, der Selbstsucht und dem Hochmut verfallen. Das Böse sei für sie eine Lebensart gewesen.
»Er hat nur gesagt, wir sollen nach Norden gehen«, sagte Evie leise. Sie öffnete die Augen und sah, dass er auf sie herabstarrte. Sein Blick war etwas sanfter geworden.
»Hast du Hunger?«
Sie nickte.
»Ich auch. Essen wir was. Aber dann sollten wir los.«
Sie war versucht, ihm zu widersprechen und ihn zu ermahnen, das bisschen Essen, das sie hatten, einzuteilen, aber sie ließ es bleiben. Sie war es müde, zu streiten. Die neue Welt war ohnehin schon rau und leer genug; mehr Einsamkeit, als sie schon jetzt empfand, konnte sie sich nicht vorstellen.
Raffy schnürte den Rucksack auf und warf ihr etwas Brot und Käse hin, und sie begann lustlos zu essen, aber bald meldete sich der Hunger mit Macht und sie schlang alles gierig hinunter. Doch sie behielt Raffy im Auge, während sie aß. Ihr ganzes Leben lang hatten sie sich danach gesehnt, zusammen zu sein, und jetzt waren sie zusammen und konnten kaum miteinander reden. Würde das in dieser Welt jenseits der Stadt immer so sein?
»Sollen wir zu der anderen Stadt gehen?«, fragte sie schließlich. »Der Ort, der mit dem System kommuniziert hat?«
Raffy aß zu Ende, zog eine Flasche Wasser aus dem Rucksack und trank einen Schluck. Dann stand er auf. »Also glaubst du mir jetzt?« Wieder war seine Stimme voller Hohn. »Das solltest du lieber nicht. Lucas hat doch klargestellt, dass ich mich geirrt habe. Es war eine Panne, das ist alles.«
Evie schüttelte den Kopf. »Er meint, er hätte das nur gesagt, um dich zu schützen. Damit du es nicht weitererzählst. Er hat gesagt, es sei ein Kommunikationsprogramm. Er hat gesagt, es sei seine Schuld, dass du es gefunden hast.« Sie fing seinen Blick auf und verstummte; er hatte die Wärme in ihrer Stimme gehört und seine Miene war feindselig. »Das hat er mir jedenfalls erzählt«, sagte sie brüsk, »als er mich gebeten hat, dir bei der Flucht zu helfen.«
»Dann muss es ja
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