Das letzte Zeichen (German Edition)
der Hütte auf und ein Hund stürzte heraus. Mit gewaltigen Reißzähnen und tödlichem Knurren jagte er auf sie zu. Evie blieb wie angewurzelt stehen. Das flachere Sumpfgelände lag schon hinter ihnen. Wenn sie vom Weg abkamen oder neben den Pfad traten, würden sie ertrinken. Aber der Hund war schon auf dem Pfad, rannte auf sie zu. Es gab kein Entrinnen. Sie straffte sich, biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten, doch auf einmal schien vor ihr alles viel langsamer abzulaufen. Sie sah, wie Raffy sich auf den Hund stürzte und ihn vom Pfad hinunter ins Moor abdrängte. Das Tier riss das Maul auf und wollte Raffy anspringen, doch der Boden unter seinen Hinterläufen gab nach und es sank ein – genau wie Raffy. Ihre Blicke trafen sich, und er begann, mit den Armen zu rudern. »Ich komme schon klar«, rief er. »Geh schon. Lauf, was du kannst!«
Doch Evie ging nicht. Sie rannte ein Stück zurück, riss sich den Overall herunter, hielt einen Ärmel fest und warf den Rest so aus, dass Raffy das andere Ende fassen konnte. Doch es war noch ein ganzes Stück von ihm entfernt. Entschlossen arbeitete er sich darauf zu, aber mit jedem Schritt sank er tiefer ein.
»Raffy«, schrie Evie. »Raffy!«
Er schnappte nach dem Hosenbein, noch einmal, beim dritten Mal konnte er es mit der Hand packen. Evie legte sich flach auf den Weg, krallte sich mit beiden Händen in das Ölzeug und zog mit aller Kraft. Zwei Mal verschwand Raffys Kopf im Moorwasser, zwei Mal schrie sie seinen Namen, und zwei Mal sah sie ihn wieder auftauchen, die Augen angstvoll geweitet, die Zähne zusammengebissen. Dann endlich bekam er festen Grund unter die Füße und zog sich auf den Pfad hinauf, von Kopf bis Fuß bedeckt von dem ekelhaft stinkenden Morast.
Wieder öffnete sich die Tür der Hütte. Diesmal erschien ein grauhaariger Mann, der etwas in der Hand hielt. Ein Gewehr. Evie kannte das aus der Schule, wo man ihnen in Büchern und auf Bildern gezeigt hatte, welches Ausmaß das Böse vor der Errichtung der Stadt gehabt hatte. Man hatte ihnen gesagt, in der Stadt gebe es keine Gewehre. Und trotzdem …
»Los jetzt«, sagte Raffy, der das Gewehr auch gesehen hatte, und zog Evie mit. »Schnell!«
Sie rannten los. Ein Geräusch, lauter als alles, was Evie je gehört hatte, lauter als Blitz und Donner, ertönte, und sie fielen hin.
»Alles okay?«, flüsterte Raffy.
»Ja«, antwortete sie.
»Bleib liegen. Wir kriechen weiter, bis wir außer Sicht sind.«
Evie nickte und folgte Raffy. Sie krochen auf dem Bauch weiter, während hinter ihnen Schüsse peitschten; endlich schien der Mann aufzugeben und sie standen auf und rannten um ihr Leben.
»Das Tor!«, keuchte Raffy nach ein paar Minuten, die ihnen eher vorgekommen waren wie eine Stunde. »Da ist es. Lucas hatte recht.«
Evie sah es vor sich auftauchen wie einen Engel, so als würden all ihre Wünsche auf einmal in Erfüllung gehen. Ein riesiges Tor aus Metall, oben und unten mit Stacheln bewehrt, die waagerecht herausragten. Linkerhand war ein Schloss. Behutsam holte sie den Schlüssel hervor und gab ihn Raffy.
»Mach du es«, sagte sie, denn sie traute sich nicht.
Raffy nahm den Schlüssel, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn herum. Evie wusste nicht, was sie erwartet hatte – noch mehr Schüsse vielleicht oder dass eine Armee aufmarschierte. Irgendetwas. Stattdessen ging das Tor leise auf; auf der anderen Seite lag eine graue, öde Ebene.
»Bist du wirklich sicher, dass du die Stadt verlassen willst?«, fragte Raffy. Sie sah ihn an – seine verklebten Haare, das verschmierte Gesicht, seinen schlotternden Körper und seine seelenvollen Augen. Und mit einem Mal hatte sie keine Angst mehr, denn wovor sollte sie sich jetzt noch fürchten? Sie ließen einen Ort hinter sich, der für Raffy den Tod bedeutet hätte, einen Ort, der sie in allem belogen hatte.
»Ich bin ganz sicher«, flüsterte sie.
Raffy lächelte und um seine Augen bildeten sich Fältchen. Er nahm sie bei der Hand und sie schritten zusammen durch das Tor. Dann schlossen sie es hinter sich wieder.
»Und jetzt?«, fragte Raffy, lehnte sich an das Tor und betrachtete prüfend die Landschaft vor ihnen.
»Jetzt laufen wir«, sagte Evie. »Jetzt laufen wir und bleiben nicht stehen.«
11
R affy rührte sich und schlug die Augen auf. Dann streckte er sich und stand auf. »Hast du geschlafen?«
Evie zuckte halbherzig die Schultern. Sie hatte kein bisschen geschlafen, aber das wollte sie nicht sagen. Dazu war es
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