Das letzte Zeichen (German Edition)
euer Vater …«
»Er war fünfzehn«, erklärte Evie. »Er hat die Schule verlassen und von da an für die Regierung gearbeitet. Alle haben gesagt, er tut das, weil es ihm peinlich ist wegen seines Vaters. Weil er sich schämt.«
»Das habe ich auch gedacht«, sagte Raffy. »Ich habe ihn gehasst die ganzen Jahre.«
»Er wollte, dass du ihn hasst.« Evie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Er wollte, dass alle glauben, er schämt sich – damit niemand Verdacht schöpft.«
»Euer Vater muss ihn eingearbeitet haben, bevor …« Linus schüttelte ungläubig den Kopf.
»Bevor sie ihn umgebracht haben?« Raffys Stimme zitterte.
Linus nickte. »Es tut mir leid.« Er sah Raffy bekümmert an. »Er war ein guter Mann. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das alles tut. Aber wir werden seinen Tod rächen. Mach dir keine Sorgen. Sag mir, ist das Programm aufgeflogen? Weiß der Bruder jetzt darüber Bescheid?«
Raffy schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … Ich glaube nicht. Niemand hat mir geglaubt. Lucas hat allen erzählt, dass ich verrückt bin; ich hätte selber einen Fehler eingebaut, und ich wäre voller irriger Vorstellungen, was der bewirken könnte. Dann hat er mich zu Hause eingesperrt, damit ich niemandem sonst davon erzählen konnte, damit niemand mit mir sprechen konnte.«
»Ein schlauer Bursche, dein Bruder«, meinte Linus grimmig. »Und dann?«
»Dann hat das System ihn zum K herabgestuft«, sagte Evie und bekam ein mulmiges Gefühl im Magen. Lucas. Die ganzen Jahre. Nur seinetwegen hatte das System nichts von ihr und Raffy erfahren. Hatte er nicht gesagt, dass er über sie beide Bescheid wusste und dass er sie geschützt hatte? Er musste verhindert haben, dass das System sie sah, dass es die ganze Sache herausfinden konnte. Alles, was er getan hatte, hatte einen Grund gehabt. Alles. Und sie hatte ihn ein Leben lang verachtet. »Und er ist zu mir gekommen und hat mir gesagt, wir müssten fliehen. Er hatte das schon tagelang geplant und er hatte bei meinem Vater schon nach dem Schlüssel gesucht.«
»Dein Vater ist Schlüsselhüter?«
Evie nickte.
»Dann ist der Schlüssel, den du dabeihast, echt?«
»Ja natürlich.« Evie tastete in ihrer Tasche danach und nahm ihn fest in die Hand. Aber in Gedanken war sie bei Lucas, der nun in der Stadt allein war und hinter dessen kalten Augen sich ein kleiner Junge verbarg. Ein Junge, der mitansehen musste, wie sein Vater in den Tod geführt wurde, der selbst in den Untergrund gegangen und zu einem Mann geworden war, der alle schützte außer sich selbst.
Linus stieß nachdenklich den Atem aus. »Also gut«, meinte er. »Wir müssen mit deinem Bruder sprechen. Wir müssen Verbindung zu Lucas aufnehmen.«
Lucas sah das Icon in dem Moment aufleuchten, als die Verbindung aufgebaut wurde. Er hatte gewartet, gehofft, gebangt. Es waren lange Tage und Nächte gewesen – tagsüber verborgen hinter seiner gewohnten Maske, hinter dem leeren Lächeln, der steifen Sprache, der kalten Verbindlichkeit, die ihm all die Jahre so gute Dienste geleistet hatten. Nachts dagegen fiel die Maske von ihm ab, und die Dämonen drängten an die Oberfläche, warfen ihm vor, er hätte seinen Vater enttäuscht, hätte seinen Bruder sich selbst überlassen. Er würde ihn nie wiedersehen und auch Evie nicht. Evie … Er schloss für einen Moment die Augen und wappnete sich für den Fall, dass es eine schlechte Nachricht war, falls das Allerschlimmste eingetreten war. Dann vergewisserte er sich wie immer, dass niemand in der Nähe war, dass keiner etwas sah oder Verdacht schöpfen konnte, und gab den Sicherheitscode ein, der das Programm aktivierte.
»Benutzer. Ihre Nachricht?«
»Sind wir in Sicherheit?«
»Wir sind in Sicherheit.«
»Ein Ungeheuer lebt im Norden, aber wo?«
Lucas lächelte. Sein Vater hatte die Idee gehabt, Passwörter aus den Märchen und Mythen zu verwenden, die er Lucas heimlich erzählt hatte, als der noch klein war; das war ihr Geheimnis gewesen. Niemand sonst wusste davon. Als Raffy genauso alt war wie Lucas damals, war ihr Vater schon tot. Lucas hatte es nicht fertiggebracht, seinem Bruder die Geschichten zu erzählen; er hatte Angst, dass seine Maske fallen würde. Er hatte befürchtet, Raffy könnte das Geheimnis nicht bewahren und würde dadurch alles gefährden. Aber wie viel hatte er sich und seinem Bruder damit verwehrt? Zu viel? Eine einzelne Träne lief ihm über das Gesicht und er wischte sie weg. Weinen fühlte sich jetzt ganz fremd an,
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