Das Licht, das toetet
ihn geschmiegt, bis die Polizei eintraf. Die Polizei! Der Gedanke an die satsu ließ sie aufhorchen.
„Was?“, fragte sie.
„Wieso du die Widerstände geklaut hast? Die kosten doch nichts.“
Schmatzend zuckte Chiyo mit den Achseln. „Is’ doch egal. Aber soll ich Ihnen erzählen, wer den Ausweis gemacht hat?“ Sie lockte ihn mit dem Zeigefinger näher zu sich. Noch einmal sah sie sich nach seiner überschminkten Kollegin um, aber die war mit einem anderen Ladendieb beschäftigt, der ihr in die Videofalle getappt war.
Der Koreaner nahm einen Klappstuhl und stellte ihn zu Chiyos Bürosessel. Freundlich lächelnd setzte er sich ihr gegenüber. „Na, dann mal raus mit der Sprache. Wer ist der Künstler?“
In Gedanken zählte sie bis fünf, atmete tief durch und konzentrierte sich. Dann ging alles blitzschnell.
Mit einem Mal schrie der Sicherheitsmann auf. Chiyo hatte ihm beide Wangen aufgekratzt. Bevor der Dicke verstand, was passierte, war sie mit ihrem Stuhl nach hinten gerollt. Mit voller Wucht ließ sie sich gegen die Scheibe prallen. Das Glas würde ihr nicht den Rücken aufschlitzen, sondern in tausend Bröckchen zerplatzen, denn es war Sicherheitsglas. Das war Vorschrift.
Der Knall der Scheibe war ohrenbetäubend. Ein Regen aus Glaskrümeln prasselte auf sie nieder, während sie rittlings aus dem Fenster stürzte und einen Meter tiefer auf das Wellblech des Vordachs aufschlug. Sie wirbelte herum, rollte sich ab und rutschte zur Kante an der linken Seite. Für einen Lidschlag sah sie das verdutzte Gesicht des Wachmanns über sich. Ihr tat es leid, dass sie ihn verletzt hatte, aber schließlich hatte er sie auch mit dem Schlagstock getroffen. Da stürzte sie bereits vom Vordach. In Windeseile versuchte sie, die Beine unter den Körper zu bekommen, irgendwie auf ihre neonfarbenen Schuhe zu fallen. Doch es gelang ihr nur halb. Sie fiel auf einen Strauch lila Hortensien und knickte um. Ein höllischer Schmerz fuhr durch ihren Knöchel, aber es schien nichts gebrochen zu sein. Sie hörte noch immer Glassplitter auf die Straße hageln, doch sie drehte sich nicht mehr um. Chiyo rannte zu den Rollern, die in Reih und Glied vor dem Electro-World parkten. Sie hetzte die Maschinen entlang und stieß ein paar Teenager beiseite, die vor dem Laden abhingen. In einiger Entfernung konnte sie einen Polizeiwagen sehen, der sich durch die Hauptstraße Akihabaras schob und die Menschenmenge teilte wie ein Kiel das Wasser. Mit einem Mal leuchtete das Blaulicht auf und die Passanten und Händler sprangen zur Seite.
Verflucht, dachte sie und fand endlich ihren roten Roller. Sie sprang auf, zündete sofort und gab Vollgas. Die Reifen drehten durch, Abgase hüllten sie ein, dann schoss sie mit einem Ruck vor und tauchte in der Menschenmasse unter.
Chiyo schlängelte sich durch die Straße gegen den Strom, bog kurz darauf in eine Seitengasse mit kleinen Elektronikständen ein und war nach wenigen Metern in einem Durcheinander aus schreienden Händlern, bunten Markisen und Bergen ausrangierter Spielautomaten verschwunden.
11
Die neue Bücherei von Southend befand sich in einer stillgelegten Brauerei. Nachdem die alte Bibliothek abgebrannt war, hatte man die geretteten Bücher in dem einstöckigen Fabrikgebäude untergebracht, das seit den 50er-Jahren nicht mehr genutzt wurde. Inzwischen waren aus dem vorübergehenden Umzug sechs Jahre geworden und die Bücher lagerten noch immer in den Tonnengewölben und langen Backsteinkellern, in denen sich einst Biertanks und Fässer befunden hatten. Überall in dem mit schiefen Karteikästchen und klapprigen Kartenständern vollgestopften Gemäuer roch es nach Papier, Stoffeinbänden und Kleber.
Obwohl sich die Mitarbeiter alle Mühe gegeben hatten, die Bibliothek übersichtlich zu gestalten, fühlte sich Ian in den verwinkelten Kellern immer an die Katakomben von Paris erinnert, die er vor zwei Jahren mit seiner Mutter und Peter besichtigt hatte.
„Wir haben alle britischen Zeitungen, jede Ausgabe seit 1976. Ihr könnt sie euch dahinten ansehen“, erklärte ihnen eine süße Brünette, die kaum älter als die beiden Jungen war. Sie saß hinter einem Infotisch, auf dem zerschnittene Zeitungen und riesige Stapel von Büchern lagen. Auf einem Buch klebte eine Gurkenscheibe, die aus ihrem Thunfischbaguette gefallen sein musste, das eindeutig zu groß für ihre zierlichen Hände war. Die junge Frau zeigte mit ihrem Snack in Richtung einiger monitorartiger Maschinen, die auf Tischen
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