Das Licht, das toetet
deutschen Touristen in einen BMW am Piccadilly Circus. Die 22-jährige Fahrerin des BMWs erlag ihren Verletzungen. Trotz schnell eintreffender Hilfe starb die junge Frau noch im Krankenwagen. Die Polizei geht von technischem Versagen aus. Erste Untersuchungen des Busses ergaben Mängel an der Hydraulik der Bremse und …
Fragend blickte Ian zu Bpm, der ein verdutztes Gesicht machte. „Da steht nichts über deinen Vater. Es sei denn, dein Vater ist eine 22-jährige BMW-Fahrerin“, stellte er fest.
Ian nickte stumm. Mit einem Mal war ihm warm geworden. Er konnte die Neonlampen hören. Sie sirrten kaum wahrnehmbar unter der Decke. Die Bibliothekarin kämpfte mit dem letzten Rest ihres Thunfischbaguettes und die Studentin war noch immer in ihre Bücher vertieft. Er zwang sich, den Artikel zu Ende zu lesen. Das war der Unfall, von dem seine Mutter ihm erzählt hatte. Der Tag stimmte, der Touristenbus, die Straßenecke – all dies waren die Details, die er schon kannte. Doch wieso stand dort etwas von einer Frau? Laut seiner Mutter sollte es sein Vater gewesen sein, der am 25. Februar mit seinem BMW auf dem Weg zur Arbeit verunglückt war.
„Wieso steht da, eine Frau in einem BMW, wenn …“
„Ja, ja“, stoppte Ian seinen Freund. „Ich habe keine Ahnung.“
Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten, dachte Ian. Entweder die Zeitung lügt oder meine Mutter. Kaum hatte er die zwei Varianten in Gedanken durchgespielt, nuschelte Bpm schon mit dem Mund voll Cracker: „Deine Mutter lügt.“
„Warum sollte sie?“, fuhr Ian ihn schroff an.
Bpm hob abwehrend die Hände: „He, frag mich das nicht, ja. Ich komm nur zu Besuch und fresse euren Kühlschrank leer.“
„Nein, ich meine – warum lügt sie?“
„Schlechte Kindheit?“ Bpm steckte sich noch einen Cracker in den Mund.
Ian rieb sich die Augen. In seinem Kopf drehte sich alles. Seine Mutter hatte ihn belogen. Warum erfand sie einen Autounfall?
„Komm, gehen wir.“ Wie eine Welle brach sein ganzer Frust über dieses verlogene Leben in dieser dämlichen Kleinstadt über ihn herein. Diese scheinheilige Familienidylle. Die Sehnsucht nach seinem Großvater packte ihn, die Vorstellung nach einem selbstbestimmten Leben ohne Lügen. Sein Großvater war wie der italienische Landgraf, der seine Meinung mit seinem Leben verteidigt hatte. Für Ian stand fest, dass sein Großvater ihn nie derartig belogen hätte. Er hätte auch nicht zugelassen, dass er in dieser langweiligen Kleinstadt sein Leben fristete. Abrupt stand Ian auf. Nichts wie raus hier, an die frische Luft.
Bpm ließ laut raschelnd die Cracker im Rucksack verschwinden und Ian drehte sich automatisch zu ihm um. Noch einmal schaute er auf den Monitor. In einer kleineren Überschrift am Rand las er die Worte Richmond Villa , dann hatte Bpm das Gerät auch schon ausgeschaltet.
„Warte mal.“ Ian setzte sich zurück auf den Stuhl. „Mach noch mal an.“
Achselzuckend knipste Bpm das Lesegerät wieder an. „Hast du ’n Sonderangebot gefunden?“
Ian ignorierte den blöden Spruch seines Freundes, schob ihn beiseite und zoomte selbst an den kleinen Artikel heran.
„Was …?“ Mehr brachte Ian nicht hervor. Seine Kehle war zu trocken und er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Es war nur eine Randnotiz, ein kleines Kästchen unter vielen. Und die wenigen Zeilen hatten auch nichts mit dem Unfall zu tun, sehr wohl aber etwas mit seinem Vater.
12
Amundsen-Scott South Pole Station,
Antarktika
Wind: ONO (70°, 16 Knoten)
Sicht: ‹ 800 m
Himmel: bewölkt Temperatur: – 46 °C
Luftdruck: 970 hPa
Wetter: Eisprismen, Schneetreiben
Gefühlte Temperatur: – 66 °C
Ein Witz, dachte er. Gefühlte Temperatur minus Sechsundsechzig Grad. Ihm kam es wie minus sechshundertsechsundsechzig Grad vor. Gab’s da nicht einen Rocksong? Die Nummer des Teufels? 666?
Eisbröckchen hatten sich im Stoff der Skimaske gebildet und der Schnee peitschte in seinen Rücken. Doktor Daniel Cornelis Rheinberg hätte sich am liebsten in die Hände geblasen, um sich zu wärmen, aber er trug drei Zentimeter dicke Polarfäustlinge und sie auszuziehen, wäre Selbstmord gewesen. Der Wind schnitt ihm trotz Skimaske, Schutzbrille und gefütterter Kapuze, die er fest zugezogen hatte, ins Gesicht. Daniel hatte sich in den letzten anderthalb Jahren, die er bereits am Südpol verbrachte, wegen der Kälte einen Vollbart wachsen lassen. Bei jeder zweiten Skype-Konferenz, die er regelmäßig mit Zuhause führte,
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