Das Licht, das toetet
Er hat erzählt, dass sie sein Auto angegriffen hätten und er deswegen einen Unfall hatte. Der Wagen war vollständig ausgebrannt. Ein paar Wochen später hat er sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Tagelang. Ich habe versucht, mit ihm zu reden, ihn dazu zu bringen, zu einem Arzt zu gehen, doch er hat nur gelacht. Er hat gemeint, damit sei er durch, niemand könne ihm helfen.“
Sein Herz krampfte sich zusammen, als er sah, wie sehr seine Mutter beim Erzählen litt. Ian hatte nicht vor, alte Wunden aufzureißen, doch er musste die Wahrheit erfahren. Über seinen Vater und damit über seine eigene Vergangenheit und seine Visionen. Er konnte sich nicht mehr an seinen Vater erinnern und wollte endlich das Bild, das er sich von ihm über die Jahre gemacht hatte, mit Leben füllen.
„Ist schon gut“, tröstete er sie, denn es war ihm peinlich, seine Mutter weinen zu sehen. Jetzt war es an ihm, ihre Hände zu halten.
Unter Tränen lächelte sie ihn an. „Ich bin okay“, flüsterte sie. „Es war nur so grauenhaft, wie Thomas immer mehr verzweifelte. Dein Vater hat sich ernsthaft bedroht gefühlt und dann an diesem Morgen, dann … Dann ist er nicht mehr aus seinem Arbeitszimmer gekommen.“
„Er hat sich umgebracht, um die Visionen zu beenden?“ Angst kroch Ians Rücken hinauf. „Hat er dir gesagt, was er sieht? Waren es die Seelen Verstorbener?“
Olivia nickte. „Ja, vielleicht. Die Visionen wurden immer realer. Thomas hat es nicht mehr ausgehalten. Ich meine, er hat dich geliebt, Ian, aber seine Albträume haben ihn umgebracht. Er hat sie ständig gesehen und gehört, immerzu ein Flüstern, ein Fiepen oder so. Und er hatte solche Angst, sie würden ihn …“ Erneut hielt sie inne. Sie schenkte sich ein weiteres Glas Wasser ein, nippte aber nur daran. „Du hattest diese Halluzinationen auch, diese … Visionen, wie du sie nennst. Mit vier Jahren fing es an. Im zweiten Sommer nach Thomas’ Tod. Du hast Medikamente bekommen, wahrscheinlich weißt du das gar nicht mehr, oder?“
„Diese weißen Bonbons, die nach Zitrone geschmeckt haben?“
„Haben sie das?“ Sie lächelte. „Ja … Nach ein paar Monaten war der Spuk vorbei. Du hast wieder durchgeschlafen, bist vom Spielen gekommen, ohne etwas von komischen Geräuschen zu erzählen.“ Sie zögerte, spielte mit dem Glas, das Wasserringe auf dem polierten Holz des Tisches hinterließ. „Ich habe die Pillen abgesetzt. Ich meine …“
Ian nickte. „Und jetzt habt ihr Angst, dass die Visionen wieder da sind? Und dass ich dasselbe mache wie Dad?“
Seine Mutter schwieg. Sie versuchte ihren Sohn anzusehen, doch sie hielt Ians Blick nicht stand. Es dauerte lange, bis sie sagte: „Vielleicht ist es das Beste, wenn wir zu Doktor Bernstein gehen.“
Bitter lachend stand Ian auf. „Zu Peters glatzköpfigem Freund? Dem Seelenklempner? Die Art von Hilfe brauch ich nicht, Mama. Echt nicht.“
„Warte doch mal.“ Sie erhob sich. Zero legte Ian das Gummihuhn vor die Füße und begann zu bellen.
„Danke, dass du mir die Wahrheit gesagt hast. Und willst du noch was wissen? Ich habe den Hangar nicht in Brand gesteckt. Falls Peter das wirklich glauben sollte.“ Er schnappte sich das Huhn. „Komm, Zero.“
„Ian! Ich habe schon einen Termin gemacht.“
„Dann geh doch allein hin.“ Ohne auf die Einwände seiner Mutter zu warten, lief Ian in den Flur. Er schnappte sich seinen Basketball und rannte mit Zero hinaus.
14
Böen peitschten den Schnee in Wellen heran, so stark, als würde ein Riese nach ihm schlagen. Die Windstöße ließen ihn Schlangenlinien fahren. Ein paar Mal glaubte er, vom Fahrzeug gerissen zu werden.
Verzweifelt klammerte sich Daniel an sein Schneemobil und versuchte, im endlosen Weiß die Amundsen-Scott-Station auszumachen. Doch die dicken Handschuhe verhinderten einen guten Halt und die Eispartikel, die durch seine Skimaske drangen, ließen jeden Atemzug zur Qual werden. Mit dem Daumen gab er mehr Gas und kämpfte sich Meter für Meter gegen den peitschenden Wind vorwärts.
Mit einem unguten Gefühl sah er in die Wolken, die sich grau in grau über der Ebene zusammengeballt hatten. Dass es so heftig zu schneien beginnen würde, hätte er nicht gedacht. Schnee am Südpol gab es selten. Doch der Sturm und das verfluchte Tiefdruckgebiet hätten ihn warnen sollen. Schließlich hatte er neben seinem Physikstudium genug Seminare in Meteorologie besucht, um Zeichen wie diese deuten zu können.
Plötzlich schrie Daniel auf. Es
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