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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cyrus Darbandi
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die Menschen, die du liebst, mit anderen Augen sehen, wenn du weißt, was ihnen geschehen kann.«
    Abraham kam damit nicht zurecht. Er wusste einfach zu viel, weil er zu viel gesehen hatte. Was ihn plagte, war der mörderische Wissensvorsprung eines jeden Polizisten.
    Denn er hatte zu oft gesehen, was einem Mädchen wie seiner Tochter Judith alleine da draußen geschehen konnte. Der falsche Freund. Die falsche Abzweigung. Das falsche Lächeln eines Fremden, der dich in Sicherheit wiegt, während seine Hand hinter dem Rücken verborgen schon den Griff des Messers liebkost.
    Die Welt war groß, in ihr pulsierte ein schwarzes Herz, und die Toten riefen nach ihm.
    Manchmal, wenn es zu viel wurde, blieb er nächtelang weg, streifte durch die verwahrlosten, räudigen Ecken der Stadt, suchte alte Mordschauplätze auf. Erinnerte sich stellvertretend für die Geister der Ermordeten, die ihm über die Schultern sahen.
    Wenn er lieber bei seinen Opfern und Mördern ist als bei mir und den Kindern, dachte Erin, dann verliere ich ihn.
    »Du fehlst mir«, sagte sie eines Nachts, als sie im Bett lagen.Er verstand sie schon lange nicht mehr, deshalb brachte er nicht mehr als ein dünnes »Ich bin doch hier« zustande.
    »Nein«, sagte sie.
    Er gehörte ihr nicht mehr alleine, die Toten beanspruchten ihn ebenso intensiv wie sie selbst.
    Manchmal versuchte sie, seine Sicht der Dinge nachzuempfinden. Bemächtigte sich seines Blicks, ging durch seine Träume.
    Ja, es gab Zeiten, in denen sie ihm an all die Orte folgte, an denen er sich verlor.
    Leichen in Reihenhäusern und Villen, in Sozialbauten und Einzimmerwohnungen, unter Betten, in Schränken und Truhen, in Plastiktüten und Abfallsäcken entsorgt, seit Monaten verrottet, verwest, verflüssigt, Maden und Larvenfriedhöfe, das Sterben auf Raten, der Tod auf Abruf, aus der Welt, aus der Zeit gefallen, Schuldige, Unschuldige, Frauen, Kinder, Alte, Schwache, Kranke: mit Messern erstochen, erschossen, erdrosselt, mit Plastiktüten erstickt, angezündet und verbrannt, ihre Schädel mit Hämmern und Montiereisen zertrümmert, vergiftet, zerstückelt, aufgefunden unter Autobahnbrücken, in Flüssen, Seen, Nebenstraßen, Seitenstraßen, in Kellern und Lauben; in Hinterhöfen, auf illegalen Müllhalden und alten Industriebrachen abgeladen, entsorgt, vergraben, mit ungelöschtem Kalk oder Säure aufgelöst; manchmal waren die Körper weit entfernt davon, einmal menschlich gewesen zu sein, nunmehr Fragmente, Überreste, bloße Behauptungen.
    Erin durchstreifte Räume, Plätze, glitt körperlos durch Wände, schwebte über Dächern, folgte den Spuren ihres Mannes, verließ die Außengrenze der Nekropole und fand sich innerhalb eines einzigen Augenaufschlags in einer Wüste wieder und in einer neuen Stadt, die ihr wie ein gestrandetes Relikt, ein grotesker Irrtum erschien. Der Sand der Zeit hatte ihren steinernen Bauch gefüllt, ihre Gebäude waren verfallen und verlassen – als wären sie nie bewohnt gewesen.
    Was sie sah, war das Ende der Zeit selbst.
    Erin zog durch diese schwarze Rückseite der Welt mit weit geöffneten Augen.
    Sie suchte nach Abraham unter all den Toten, die darauf warteten, dass man ihre Sachen verhandelte. In ihren entstellten, geschändeten, zerstörten Körpern pulsierte ein dunkles Licht. Sie starrten Erin an, als sei sie ein Missverständnis, eine Fehlbesetzung, eine unwillkommene Einmischung von außerhalb.
    (Und nichts anderes war sie hier.)
    Sie blieben stumm, aber das Entsetzen, das sie ausstrahlten (es lag in dem dunklen Licht), drang in Erins Kopf und setzte sich dort als ein immer stärker werdendes Summen fest.
    Manifestierte sich zu einer schier endlosen Abfolge von Mordbildern: Die Toten erzählten ihr so auf ihre Weise von dem, was ihnen geschehen war.
    Es war ihr, als platzte ihr der Kopf. Sie marschierte durch eine Ebene, die unter einer schwarzen Sonne lag. Der Horizont war in dunkles Blau getaucht, das sich mit keinem anderen vergleichen ließ. Irgendwo vor ihr war ihr Mann – sie erkannte seine große stille Gestalt, die stur weiter vorausschritt, einem Ruf folgend, der nur für ihn bestimmt war. Sie rief ihrerseits seinen Namen, aber er war außerhalb ihrer Reichweite, und egal, wie sehr sie sich bemühte, sie kam ihm nicht viel näher. Eine Gegenkraft drückte sie permanent weg von ihm, eine Art umgekehrter Magnetismus, der stärker war als die Sehnsucht ihres Herzens, bei ihm zu sein. Dabei wusste sie, dass er ihre Hilfe brauchte. Er befand sich

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