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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cyrus Darbandi
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Grischa gar nicht, sondern waren nur auf ihre Verluste fixiert.
    So wie der Makler.
    Auch er war ein Verlustspezialist.
    Der Makler hieß eigentlich Stoljanow und war zusammen mit der alten Bezeichnung für den Geheimdienst abgewickelt worden – das war jetzt mehr als zwanzig Jahre her. Vorher dazu bestimmt, die Schattenwelten zu durchstreifen, sich in ihren Verwerfungen zu tummeln, Pläne zu schmieden, wie Kinder Streiche ausheckend, böse und gemein, fand er sich von heute auf morgen als ein weiterer verbitterter mittelalter Mann im Staub der Trümmer der Geschichte wieder. Er erinnerte sich daran, wie dieser Staub sich auf seine Augen setzte und seinen Blick in die erfüllte Vergangenheit, als er noch bedeutend war, löschte und ihm nichts anderes ließ als eine Gegenwart, die ihn und seinesgleichen verachtete, und dahinter verbarg sich das beunruhigend undurchdringliche Dunkel der Zukunft. Die ersten Monate sahen ihn blinzelnd, verwirrt und gedemütigt durch das Chaos der neuen Zeit irren; binnen weniger Wochen zerfiel seine Ehe und setzten sich seine Kinder, nun befreit von den autoritären Fesseln, die er ihnen unter anderem auch durch die Drohung seiner Arbeit angelegt hatte, in den Westen ab. Später schrieben sie ihm, versöhnungsmilde gestimmt durch ihre verweichlichte Verwestlichung, aber er zerriss ihre Briefe und er legte das Telefon auf, wenn sie ihn anriefen, und schlussendlich meldeten sie sich gar nicht mehr. Seine Kameraden waren auch nicht viel besser, sie setzten sich in alle Himmelsrichtungen ab, einige boten sich ausländischen Nachrichtendiensten an, andere gaben sich in einer jähen Aufwallung von Verzweiflung die Kugel. Über ihren an der Wand verteilten Überresten prangte nur für Eingeweihte lesbar: Alles umsonst.
    Ja, und die Frage, die sich ihm daraufhin stellte, war: mit diesem Gefühl weiterzuleben oder sich zu arrangieren? Zu gehen oder zu bleiben?
    Er blieb.
    Immerhin war er ein Mann mit bestimmten Talenten und Kontakten. Das zumindest konnte ihm keiner nehmen.
    Breite Risse schlängelten sich über die Wände. Grischa konnte seine Fingerspitzen in die Risse schieben. Das war gar nicht gut. Irgendwann würden diese matten, angeschlagenen Relikte von gestern endgültig in die Knie gehen und ihre Bewohner unter sich begraben.
    Stoljanow residierte in einem Zwei-Zimmer-Büro, auf dessen Tür »Stoljanow Import/Export« prangte. Sein dicker Bauch versteckte sich hinter einem wuchtigen Schreibtisch, die einst muskulären und nun verfetteten Arme lagen auf der Tischplatte. Mit schweren, blutunterlaufenen Augen, nach Wodka riechend, nickte Stoljanow Grischa zu.
    Grischa schloss die Tür hinter sich und setzte sich ihm gegenüber hin.
    »Berlin«, sagte Stoljanow und warf Grischa eine Akte hin. »Du warst schon mal da?«
    »Vor Jahren. Du selbst hast mich dorthin vermittelt.«
    Grischa erinnerte sich vor allem an das Sowjetische Ehrenmal im Tiergarten in Berlin-Mitte, das er damals besucht hatte, an den Anblick des T-34-Panzers auf dem Betonsockel, den er lange betrachtet hatte. Er hatte versucht, eine Verbindung zwischen sich und den Geistern der Männer, die in dieser Stadt gestorben waren, herzustellen. Junge Männer, deren Gesichter vom Krieg zerdrückt, deren Seelen zertrampelt wurden, junge Männer, die danach nichts weiteres mehr als alt waren und alt blieben, lebende Tote, die Helden des Überlebens waren, sonst nichts. Er empfand eine fast brüderliche Liebe und Zuneigung zu ihnen.
    Den Mord führte er eine Stunde später aus; ein Messerstich auf der Toilette einer düsteren Kneipe im Ostteil der Stadt, ein zuckender Körper, ausschlagende Beine, weitaufgerissene Augen, seine Hand, die den Mund des Opfers zuhielt und ihm den Atem nahm.
    »Ja, kann sein«, sagte Stoljanow. »Ich weiß es nicht mehr. Je älter ich werde, desto mehr verliere ich den Überblick über das große Ganze. Meine Sicht der Dinge beschränkt sich inzwischen nur noch auf das, was vor mir liegt.«
    Er kniff die Augen zusammen. »Und selbst das verliert an Schärfe. Ich frage mich, ob das gut ist oder nicht.«
    Grischa zuckte mit den Schultern.
    »Ja, das hat mir schon immer an dir imponiert: deine Redseligkeit.«
    Stoljanow lachte kehlig, nur um danach trocken und laut zu husten. Er holte zwei Wodkagläser nebst einer arg dezimierten Flasche aus der Schreibtischschublade.
    Grischa kippte den Wodka hinunter und genoss das Brennen in seinem Hals. Viel zu früh für ihn, aber er tat Stoljanow gerne diesen

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