Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Ein immer noch massiger Mann, aber zunehmend mehr Masse, als ihm lieb sein konnte.
Der Hausflur war riesig, ein von nur zwei jämmerlichen blanken Glühbirnen spärlich erleuchteter Bereich, zugig und immer kalt. Manchmal fanden sie hier morgens die Überreste von Betrunkenen, die der Winter wie ein Wolfsrudel verfolgt hatte.
Sein Kleinwagen war wie er: unauffällig, ein Skoda, zehn Jahre alt, tauchte in keiner Unfallstatistik auf. Er brauchte ein paar Minuten, passierte zwei Ampeln und warf sich dann in den ewig fließenden Verkehrsstrom hinein. Es ging nach Norden, da wo die Stadt dreckiger, düsterer wurde. Wohnblocks markierten den Horizont, sahen aus wie gestrandete Raumschiffe oder Überbleibsel einer zugrunde gegangenen Zivilisation. Wie auch immer: Aus ihren steinernen Eingeweiden heraus führte kein Weg in die Zukunft. Die gab es nur für ein paar Hundert Menschen in dieser Stadt, genau genommen gestalteten sie die Zukunft, und zwar zu ihren Gunsten. Man sah ihre Gesichter in den Klatschblättern, wo sie ihre Frauen und neue Autos, Wohnungen und Yachten präsentierten. Von ihren Geschäften erfuhr man nichts.
Manchmal hielt Grischa nach Zeichen und Wundern Ausschau. Und manchmal, wenn er es zuließ, war Larissa bei ihm. Selbst im Tod war sie wärmer, als er je sein würde.Moskau steckte voller Erinnerungen. Grischa erinnerte sich zum Beispiel an all die Orte, an denen er Menschen getötet hatte. Die Orte waren präsent, nicht so sehr die Gesichter der Opfer.
Die Gesichter vergisst man zuerst.
Aber das gelang nicht immer.
Dieses Gebäude hier zum Beispiel, an dem er vorbeifuhr, katapultierte ihn zurück an einen trüben, kalten Morgen, ein paar Monate nach Larissas Tod. Sein Zielobjekt war eine Frau gewesen – eine bekannte investigative Journalistin, die gewissen Leuten im Schatten ständig Kummer bereitete.
Grischa hatte sich in ihrer Wohnung versteckt und gewartet, bis sie aus der Redaktion ihrer Zeitung nach Hause fuhr. Ihre Wohnung war klein und trist – sie lebte für ihre Arbeit, mit dem Leben selbst hatte sie es nicht so. Keine behagliche Einrichtung, keine schönen Kleider, nur Arbeit, ein paar Bilder, Fotos ihrer zwei Kinder, die im Ausland studierten, das Gesicht eines Mannes, der in ihrem Leben keine Rolle mehr spielte.
Ein einsames Leben, asketisch, fast wie deines , dachte Grischa.
Auf einem der Bilder war auch sie selbst zu sehen, im strömenden Regen unter einem viel zu großen Regenschirm stehend, versunken in einem viel zu weiten Mantel. Sie lachte prustend den Fotografen an, vielleicht war es der Mann auf dem anderen Bild. Eine kleine, beinahe unscheinbare Frau. Aber zäh, mutig, hartnäckig. Und obwohl sie so verhärmt wirkte, fast grau, strahlte sie auf diesem Foto etwas Besonderes aus.
Ein Späher, mit dem er manchmal in Moskau zusammenarbeitete, ein im Zivilleben heruntergekommener Typ, der sich etwas dazuverdiente (seine Hände blieben im Gegensatz zu denen Grischas sauber), meldete ihm von seinem Wagen aus, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Hauses stand, dass die Journalistin zurückkehrte. Grischa verließ die Wohnung, trat in den Hausflur und stellte sich vor den Aufzug.
Sie hatte eingekauft und hielt zwei Tüten in den Armen. Grischa hatte die Tokarew schon in der Hand und schoss ihr durch die Tüten mit ihren Einkäufen hindurch zweimal in die Brust, und als sie zusammengekrümmt auf dem Boden lag, verpasste er ihr einen weiteren Schuss in den Kopf. Die Aufzugtüren glitten zu, trafen ihren Körper, der halb draußen lag, und blockierten. Grischa flüchtete über die Treppe nach draußen und stieg in den Wagen des Spähers ein.
Ein normaler Job, und er hatte es immer noch drauf.
Es gab in den folgenden Tagen ein großes Geschrei um diese Journalistin, vor allem im Ausland. Nicht so sehr im eigenen Land.
Die Leute vergaßen schnell.
Grischa aber geschah Seltsames: Er träumte eine Zeitlang von ihr.
Das war in der Zeit, als er ständig Larissa in seinen Träumen sah. Und plötzlich drängte sich auch diese Frau dort hinein – so als hätte sie, ebenso wie Larissa, zu seinem Leben gehört. Verfolgte ihn mit ihren traurigen Augen durch gespenstisch leere Straßen, in denen der Wind mit klirrend kalter Stimme nach ihm rief. Grischa suchte in dieser Traumstadt nach Larissa, verfolgte ihren blonden Schopf, ihre zarte Gestalt um jede Ecke, aber immer dann, wenn er sie fast erreichte, drehte sie sich um, und er stand vor der anderen Frau mit ihren kurzen
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