Das Licht des Orakels
mitgebracht hatte, und danach gab es keine Gelegenheit mehr, das Gespräch fortzusetzen.
Dicht hinter Dawn betrat Bryn zum ersten Mal die große Halle des Orakels mit dem Hauptaltar. Es war angeordnet worden, dass alle Tempelmitglieder sich zur formellen Begrüßung Königin Alessandras zu versammeln hätten.
Allein schon das Deckengewölbe verschlug Bryn den Atem. So hoch, wie es war, schien es mit dem Himmel wetteifern zu wollen. Die Kuppel war mit Gold überzogen und in der Mitte war der Knoten der Götter aus rubinrotem Bleiglas eingelegt. Sieben Buntglasfenster reichten vom Boden bis zur halben Höhe der leicht geneigten Wände. Über jedem Fenster hing ein kompliziert gewebter Wandteppich, auf dem das Gesicht eines Gottes oder einer Göttin abgebildet war.
Die Webarbeiten waren so genau, dass sie fast unheimlich wirkten. Bryn hätte nie gedacht, dass ein Wandteppich die Kühle Keldes’, dem Herrn des Todes, so gut wiedergeben konnte. Und das Gesicht von Solz, dem
Herrn des Lichts, strahlte wie die Sonne, der Himmelskörper, über den er herrschte. Auf der anderen Seite des riesigen Raums war Monzapel, die Göttin des Mondes, dargestellt, mit ihrem unnahbaren Lächeln, kühl und silbrig. Ellerths Wandteppich zeigte die Erdgöttin zwischen Blumen, die regelrecht zu wogen schienen, als würde eine Brise über sie hinwegwehen. Winjessen, der geflügelte Herr der Gedanken, schien bereit zum Abflug. Ayel, der Herr des Kampfes, hielt ein schimmerndes Schwert über sich, und neben ihm lächelte Vernelda, die Göttin des Rechts und der Liebe, voller Mitgefühl.
»Hör auf so zu glotzen, du Ratte.« Ein spitzer Finger stieß Bryn zwischen die Rippen. Sie drehte sich um und sah Cleas gehässigen Blick. Sie beschleunigte ihren Schritt und folgte Dawn zu den gestuften Bankreihen. Zu ihrer Erleichterung ging Clea an ihnen vorbei und durch den ganzen Raum bis nach vorne. Natürlich. Sie stammt ja von König Zor ab.
Hunderte von Menschen waren versammelt. Alle blieben stehen. Ab und zu waren gedämpfte Stimmen zu hören, die aber schnell wieder von der Stille geschluckt wurden. Bryn blickte zu dem großen Altar: eine riesige, ovale Platte aus perlweißem Marmor, auf der sieben große Silberpokale, gefüllt mit klarem Wasser, und sieben brennende Kerzen standen, die in fein gearbeiteten silbernen Haltern steckten. Jeder Halter war mit einem silbernen Knoten der Götter verziert.
Der Meisterpriester stand auf einer der beiden Emporen, die sich auf beiden Seiten des Altars befanden. Seine Gewänder wirkten wie aus Stein gemeißelt und seine graue Haarsträhne trat deutlich hervor. Bryn konnte es kaum noch fassen, dass dieser Mann in der Hütte eines Steinhauers gestanden hatte.
Auf der anderen Seite des Altars stand die Erste Priesterin des Orakels. Ihr rotes Gewand war am Kragen und an den Manschetten mit Gold bestickt, fast so viel Gold, wie Renchald trug, und sie war auch fast ebenso groß wie der Meisterpriester. Ihr Teint war sehr dunkel und ihr Gesicht unter einer prächtigen Krone aus ebenfalls dunklen Zöpfen strahlte Macht und Gelassenheit aus.
Dann trat die Königin von Sorana durch eine Tür seitlich vom Altar. Brokatgewänder umhüllten sie und sie trug eine rubinbesetzte Krone. Sie war nicht so groß wie die Erste Priesterin, aber sie bewegte sich mit Anmut und Würde, als sie die Stufen der Empore nach oben schritt.
Der Meisterpriester empfing sie mit einer tiefen Willkommensverbeugung. »Das Orakel ist hocherfreut, dass Eurer Majestät Reise zum Tempel sicher verlaufen ist«, begann er mit wohl tönender Stimme. »Wir sind stolz, die Tradition und Geschichte des Tempels fortzusetzen und den Herrschern mit den Prophezeiungen des Orakels dienen zu können.«
Königin Alessandra neigte den Kopf und wandte das Gesicht der Versammlung zu. »Ich grüße euch, meine guten Leute.«
Bei diesen Worten brach in dem heiligen Raum vor dem Altar des Orakels spontaner Jubel aus. Alle, von den würdigen Priesterinnen und Priestern bis hin zu den jüngsten Helferinnen und Helfern, ließen ihrer Zuneigung zu Alessandra freien Lauf. Hunderte von fröhlichen Stimmen vereinten sich in der Huldigung ihrer geliebten Königin.
Sie verbeugte sich vor ihnen, was den Jubel nur noch mehr anschwellen ließ.
Die Königin streckte eine Hand zur noch offenen Tür neben dem Altar aus. Eine große junge Frau mit einer leichten, glitzernden Krone trat hervor und kam zu ihr auf die Empore. »Meine Tochter Prinzessin Zorienne ist
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