Das Licht des Orakels
Blick. Als er schließlich sprach, verschwendete er keine Zeit mit Höflichkeiten. »Alamar hat mir die Verbeugung gezeigt, die du heute Morgen gemacht hast. Das ist schon paradox, Kiran, dass du ausgerechnet das, was du bei deinem Lehrer gelernt hast, anwendest, um ihn zu beleidigen, oder?«
Kiran gab keine Antwort.
»Wenn du nur einen Funken Verstand hättest«, sprach der Meisterpriester weiter, »wüsstest du, dass unausgesprochene Worte oft viel schwerer wiegen als laut ausgesprochene.«
Kiran verschränkte die Arme.
»Das Protokoll kann ein Angriff oder eine Zuflucht sein, eine Waffe oder ein Friedensangebot, je nach dem, wie es eingesetzt wird.« Renchald wurde lauter, sein Gesichtsausdruck änderte sich aber nicht. »Die Rolle, die du gespielt hast – die des unbelehrbaren Rüpels –, musst du jetzt endgültig aufgeben. Ich habe dich nicht aus den Elendsquartieren des Ostlands geholt, um dich die Umgangsformen des Tempels missachten zu lassen. Vergiss nicht, ich kann dich sehr einfach in die Gosse zurückbefördern, aus der du kommst.«
Kiran ballte die Fäuste. Die Anspannung breitete sich von seinen Armen über den Rücken bis in seine Beine aus.
Die Elendsquartiere des Ostlands. Warum machte es ihm so zu schaffen, das zu hören? Es stimmte doch. Als der Meisterpriester ihn gefunden hatte, war er zwölf Jahre alt gewesen und hatte in den Elendsquartieren gehaust.
Zusammen mit seinem Vater Eston, einem Mann, der allzu sehr in den Schnaps verliebt war. Kiran hatte zu viele unschöne Erinnerungen an seinen Vater – einen Vater, der nicht mehr aufrecht stehen konnte, der zur Seite gestoßen wurde von den Herren, die ihm vielleicht eine Stelle als Pferdetrainer gegeben hätten, wenn er nur nüchtern gewesen wäre. Bereitwillig hatte Eston Renchalds Angebot angenommen, sich um Kiran zu kümmern. Kirans Mutter war schon Jahre zuvor bei einem Reitunfall ums Leben gekommen, sodass niemand sonst gefragt werden musste.
»Zur Wiedergutmachung deiner Respektlosigkeit«, fuhr der Meisterpriester fort, »wirst du in jedem Unterricht bei Alamar eine Verbeugung der vollkommenen Entschuldigung vor ihm ausführen, so lange, bis er dir diese Strafe erlässt.«
Das ist mir egal, sagte sich Kiran und ballte die Fäuste hinter dem Rücken noch fester. Nur eine Formsache. Das berührt mich nicht. Er verbeugte sich und das Rot im Teppich entsprach seiner Wut.
6
Königin Alessandra von Sorana und ihre Tochter, Kronprinzessin Zorienne, trafen im Tempel des Orakels ein und wurden in einer luxuriösen Suite im Gästeflügel untergebracht. In den vorangegangenen Wochen hatten die älteren Helferinnen und Helfer fieberhaft geputzt, hergerichtet und gekocht.
Nicht nur für die Königin. Eine weitere Suite war für Lord Bartol Errington und seinen Sohn Raynor vorbereitet worden, einen bemerkenswert hübschen jungen Mann von achtzehn Jahren.
»Warum kommt die Königin her?«, fragte Bryn, als sie mit Kiran die Futtertröge füllte.
Den Blick, den er ihr daraufhin zuwarf, konnte sie nicht deuten, fast kam es ihr so vor, als würde er sie bemitleiden. »Prophezeiungen«, sagte er und legte eine Hand auf ihre Schulter. Bryn war so verwirrt von seiner Berührung, dass es ihr schwer fiel, ihm zuzuhören. »Du weißt, dass Prinzessin Zorienne krank ist?«, fragte er.
»Das Gerücht habe ich gehört, ja.«
Er nahm seine Hand wieder weg. »Vielleicht hofft die Königin, etwas über ein Heilmittel für ihre Tochter zu erfahren.«
Bryn schüttete Hafer in einen Eimer. »Dawn sagt, wenn Prinzessin Zorienne stirbt, geht die Erbfolge auf Raynor Errington über.« Sie blickte auf und sah ihn zustimmend nicken. »Ich verstehe nur nicht, warum. Sogar Clea nimmt für sich nur in Anspruch, dass sie eine entfernte Cousine der Königin ist.«
»Stimmt. Es gibt einfach keine nahen Verwandten, verstehst du?«
Woher wusste er das? »Warum wird dann nicht Lord Errington König?«
Kiran zuckte mit den Schultern. »Errington gefällt seine Stellung als Herr über das Ostland. Er verzichtet zugunsten seines Sohnes.«
»Also würde dann Cleas Bruder König über ganz Sorana?« Bryn schauderte und verschüttete etwas Hafer.
Kiran half ihr beim Auflesen. Sie konnte seinen Atem im Nacken spüren. »Ja, und die Götter mögen uns allen beistehen, wenn das passiert.«
Sie hätte noch hundert Fragen stellen können, doch in dem Moment erschien der Sendral der Pferde, um mit ihnen die Versorgung der Stuten zu besprechen, die die Königin
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