Das Licht des Orakels
»Es tut mir so Leid«, sagte sie.
»Eins ist klar, du bringst mir noch einen Haufen Arger«, antwortete Dawn nur.
Am selben Abend traf sich der Meisterpriester in einem der inneren, heiligen Räumen des Tempels mit Königin Alessandra und der Ersten Priesterin.
Tempelwachen und Soldaten der Königin stellten sich vor dem Raum auf. Im Inneren stand Königin Alessandra aufrecht neben den sieben Kerzen, die auf dem kleinen Altar der Götter brannten. Ihre Finger bebten leicht, als sie die Schriftrolle mit der Prophezeiung aus Renchalds Hand entgegennahm.
»Bitte, Eure Majestät«, sagte er, »nehmt doch Platz.«
Respektvoll führte er sie zu einem Stuhl.
Die Königin blickte zu ihm auf, ihre dunklen Augen waren hellwach. »Ihr kennt natürlich den Inhalt der Prophezeiung.«
Renchald nickte. »Wenn Ihr alleine zu lesen wünscht, werden wir Euch verlassen, meine Königin.«
Alessandra hielt die Rolle andächtig in den Händen.
»Ich danke Euch, aber Ihr könnt bleiben.« Sie löste das Band, brach das Siegel des Tempels und hielt die Botschaft dicht vor die Kerzen.
Renchald hatte die Botschaft selbst geschrieben, wie er das bei allen wichtigen Prophezeiungen tat. Jedes Wort hatte sich seinem Gedächtnis eingeprägt:
Diese Prophezeiung stammt vom Licht des Orakels.
Die Tochter Eurer Majestät, Zorienne, wird nicht leben, um Sorana zu regieren. Eure Hoheit ist gut beraten, den Weg für den nächstfolgenden Anwärter auf den Thron zu bereiten.
Von meiner Feder geschrieben im Angesicht der Götter, Renchald, Meisterpriester des Tempels des Orakels.
Alessandra hob den Kopf. Sehr lange blickte sie schweigend in die Flammen. Schließlich stand sie auf. »Im Namen von Zorienne habt Dank für die Bemühung des Orakels«, sagte sie und musterte die beiden mit ihren intelligenten Augen. »Ich rechne mit der Verschwiegenheit des Tempels, den Inhalt dieser Prophezeiung nicht zu verbreiten.«
»Unsere Verschwiegenheit wird niemals gebrochen, Eure Majestät«, versicherte der Meisterpriester. Die Erste Priesterin murmelte ihre Zustimmung.
»Diese Botschaft soll verbrannt werden«, bestimmte Alessandra. »Ich bin immer noch Königin. Morgen reise ich von hier ab. Und ich werde für eine andere Zukunft kämpfen als die, die Ihr vorhergesagt habt.«
Eine Woche später erwachte Bryn aus einem Traum, in dem sie einem Wölkchen aus Distelwolle durch unbekannte Gänge des Tempels gefolgt war.
Sie setzte sich auf. Sie wusste, wo sie war – in ihrem Bett im Saal der Helferinnen, zusammen mit den anderen Mädchen, die in der Nähe, jede hinter einem eigenen Vorhang, schliefen. Ihr eigener Vorhang sollte eigentlich ihr Bett in tiefe Dunkelheit hüllen, doch sie war von Licht umgeben. Noch eigenartiger war, dass ein helles Wölkchen aus Distelwolle über ihrem Kopf das Zentrum des Lichts zu sein schien. Bryn griff danach, um zu sehen, ob es echt oder ein Überbleibsel aus ihrem Traum war. Die Distelwolle trieb aus der Reichweite ihrer Finger bis zum Rand des Vorhangs.
In ihrem Baumwollnachthemd schlüpfte sie aus dem Bett und stellte die bloßen Füßen auf den steinernen Boden. Als sie durch den Vorhang glitt, sah sie wenige Meter vor sich die Distelwolle schimmern.
»Sie will, dass ich mitkomme«, flüsterte sie, und als sie ein paar Schritte machte, bewegte sich die Distelwolle ebenfalls. Sie folgte ihr an den zugezogenen Vorhängen der Bettenreihe vorbei zu der Tür, die zur Haupthalle
führte. Als sie dagegen drückte, öffnete sie sich. Sie hatte erwartet, nun angehalten zu werden, denn Dawn hatte ihr versichert, dass hier immer eine Wache stünde. Doch die Halle vor ihr war leer bis auf die Fackeln, die in ihren Halterungen an der dunklen Wand flackerten.
Bryn zögerte und beobachtete die Wolke von Distelwolle. Wie konnte sie heller als Feuer oder das Mondlicht sein? Sie ließ die Fackeln nur trüb leuchten, und das Mondlicht, das durch die Oberlichter strömte, wirkte blass und schwach. Bryn sagte sich, dass sie in ihr Bett zurückgehen sollte. Sie konnte geradezu die Stimme ihrer Mutter hören, wie sie mit den Göttern zankte: Warum habt ihr mich mit einer so widernatürlichen Tochter geschlagen?
Bryn holte tief Luft. Ihre Mutter hatte hier nichts zu sagen, sondern Renchald. Warum sollte sie dem, was ihr geschah, misstrauen? Sie war im Tempel des Orakels.
Nicht ihre Mutter bestimmte hier, sondern Renchald, sagte sich Bryn noch einmal. Sie rief sich seine Worte in Erinnerung, die er an dem Tag
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