Das Licht des Orakels
sich, ob der Bär ihm einen Schlag versetzt hatte. Wenn dem so war, hatte sich der Bär sehr zurückgehalten, denn Haig blutete nicht. Fulton hielt sich das Knie und stützte sich auf Lamberts heilen Arm.
Als die Flügel außer Sicht gehumpelt waren, seufzte Kiran. »Es tut mir Leid, Eulengesicht, dass du wegen mir verprügelt worden bist. Die Lippe sieht böse aus.«
»Du hast mir nicht so viel zu tun übrig gelassen«, antwortete Brock und übertrieb, indem er versuchte, nur aus dem einen Mundwinkel zu sprechen.
»Stimmt nicht. Woher hast du gewusst, dass ich die Augen zumachen muss? Und wie hast du es geschafft, einen kühlen Kopf zu bewahren?«
Schweiß glitzerte auf Brocks tiefbrauner Haut. Seine geschwollene Lippe blutete noch immer, doch seine schwarzen Augen waren ruhig. »Die Gabe der Eule«, antwortete er geistesabwesend.
Kiran blickte seinen Freund an. »Die Gabe der Eule ist es also, einen kühlen Kopf zu bewahren?«
Brock gab keine Antwort.
Kiran kniff die Augen zusammen. »Die Gabe der Eule?« Seine Gedanken rasten. »Irgendwie hast du deine
Gabe genutzt, um mir zu helfen. Ich weiß, dass Gridley dir nicht anvertraut hat, wie man die Waffe des Pfaus besiegen kann.«
Brock blieb still, ungewöhnlich still. Nun nahm Kiran die Geräusche um sie herum wahr: Jacks Schnuppern und das Rascheln der trockenen Blätter an den Bäumen hinter ihnen, das Summen der Insekten und die Rufe unsichtbarer Vögel.
»Brock, du kennst die geheimen Gaben?«
Brock seufzte. »Und jetzt kennst du meine.«
Kiran starrte seinen Freund an. »Ist die Gabe der Eule, die anderen Gaben zu kennen? Aber du hast deine Feder doch gar nicht rausgeholt.«
»Du doch auch nicht«, meinte Brock. »Du hast doch Jack ohne einen Pfiff gerufen. Und ist der Bär etwa zufällig aufgetaucht?« Sein schiefes Grinsen war so komisch, dass Kiran lachen musste. Als er schluckte, um das Gelächter zu unterdrücken, bekam er keine Luft mehr und musste so husten, dass seine geprellten Rippen schmerzten. Jack bellte vor Mitgefühl.
»Du musst schon zugeben«, sagte Brock trocken,
»dass das, was wir hier gelernt haben, uns eines Tages helfen kann.«
»Was hast du gelernt, o weises Eulengesicht«, fragte Kiran, »außer wie es ist, eine aufgeplatzte Lippe zu haben?«
»Wichtige Dinge, o Bärenrufer. Du und ich, wir können unsere Begabung nutzen, ohne unsere Federn zu berühren, etwas, was, wie uns immer wieder gesagt worden ist, nur der Meisterpriester kann. Und außerdem: Es ist klug, mit Hunden und Bären befreundet zu sein.«
Jack jaulte entschieden auf und Kiran brach in stockendes Gelächter aus. Er schüttelte den Kopf. »Kannst du mir auch sagen, welche Begabung der Geierfalke gebracht hat?«
Brock wurde wieder ernst. »Der Vogel, der den Meisterpriester erwählt hat?« Er setzte sich auf den Boden.
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil er dich jetzt nicht bedroht. Und wenn ich die Gaben so mir nichts dir nichts preisgeben würde, wäre Winjessen bestimmt nicht erfreut.« Winjessen, Herr über das Denken, schützte die von der Eule Erwählten.
Kiran dachte angestrengt nach. Er musste zugeben, dass es falsch sein mochte, heilige Geheimnisse weiterzusagen. Was für ein Dummkopf Gridley doch war, seine Gabe nur aus Stolz zu offenbaren.
Plötzlich wirkte Brock älter. Mit tiefgründigen und klugen Augen blickte er zu Kiran auf. »Außerdem«, sagte er, »erkenne ich eine andere Gabe erst, wenn sie in meiner Gegenwart angewendet wird.«
Kiran zog die schmerzenden Schultern hoch. »Jetzt, nachdem ich mit einer anderen Gabe gekämpft habe, ist mir klar, wie gefährlich sie sein kann.« Beunruhigt sah er Brock an. »Welche Gabe auch immer der Falke gebracht hat, der Meisterpriester braucht seine Feder nicht, um sie einzusetzen.«
»Mit Sicherheit ist es eine beängstigende Kraft«, sagte Brock. »Ich habe gesehen, wie Geierfalken ihre Beute angreifen.«
Kiran dachte an all die Stunden, die er allein mit dem Meisterpriester zugebracht hatte. Vor seinem inneren Auge sah er wieder die Schwindel erregende Schwanzfeder des Pfaus. Ihn schauderte.
Währenddessen saß Bryn mit Dawn und Alyce östlich vom See des Tempels, wo das Gras hoch stand. Die drei Mädchen hatten eine Stelle flach getreten und dann ihre Umhänge auf dem Boden ausgebreitet. Das Gras und die Stauden, gekrönt von Samenrispen, standen dicht und so hoch, dass sie Bryn überragten und eine natürliche Umfriedung bildeten.
Bryn atmete tief durch die Nase
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