Das Licht des Orakels
Anleitung seit einem Jahr keine Prophezeiungen von Bedeutung mehr gemacht.«
Ilona schnürte sich die Kehle zu. »Aber …«
Er hob die Hand. »Sagt mir, welche Fortschritte macht sie beim Unterricht?«
Sie schluckte. »Ihre Visionen sind verschwommen und es fehlt ihnen an Einzelheiten.«
»Aber sind sie brauchbar?«
»Als Vorhersagen sind sie nutzlos. Man kann sie erst dann verstehen, wenn das Ereignis eingetreten ist.« Ilona presste die Lippen aufeinander. Machte er sie dafür verantwortlich, dass Bryn versagte? Aber hatte er denn nicht gesagt, Clea habe die Tochter des Steinhauers auf gar keinen Fall mit einem Fluch belegt?
Ilona war sich ziemlich sicher, dass dem so war.
Nachdem sie mit ihm darüber gesprochen hatte, dass sie Clea verdächtigte, Bryn verbotenerweise mit einem Fluch belegt zu haben, hatte er ihr nach einem Treffen mit Clea hoch und heilig versichert, dass diese unschuldig sei.
Konnte es sein, dass der Meisterpriester gelogen hatte?
»Irgendetwas stört Bryns Fähigkeiten«, sagte Renchald. »Ich beabsichtige, ihre prophetische Kraft dadurch auszuloten, dass ich sie in paarweiser Prophezeiung ausbilde. Wenn sie ihre Fähigkeiten wiedererlangen kann, wird sie dem Tempel gute Dienste erweisen. Mehr solche Weissagungen wie die von Lord Morlens Tod würden dem Ruf des Tempels von großem Nutzen sein.«
Während Ilona zuhörte, wirbelten ihr die Gedanken durch den Kopf. Hat der Meisterpriester mich, die Erste Priesterin des Orakels, belogen?
»Nach der Sonnenwende beginne ich mit Bryns Ausbildung«, sprach er weiter. »Sie kann mit Kiran paarweise prophezeien.«
»Mit Kiran?«, fragte Ilona pikiert.
»Wie ich Euch schon einmal gesagt habe, ist er begabter, als er sich anmerken lässt. In Eurem Unterricht mag er keine besonderen Leistungen zeigen, aber er ist vom schwarzen Schwan erwählt worden. Er ist vollständig ausgebildet. Ihn mit Bryn zusammen prophezeien zu lassen, mag ihr helfen, wieder eine fähige Prophetin zu werden.« Der Meisterpriester verbeugte sich vor Ilona.
»Wenn Ihr den Unterricht wieder aufnehmt, schickt die Tochter des Steinhauers zu mir.«
Kiran und Brock betraten den großen Saal des Tempels. Die Kandelaber schienen so hell wie beim letzten Sonnwendfest vor einem Jahr, doch Kirans Blick hielt sich nicht weiter damit auf. Ruhelos sah er von den mit Speisen und Wein beladenen Tischen hin zur Bühne der Troubadoure, während er in der Menge Bryns Gesicht suchte.
Er sah den Meisterpriester, der Autorität ausstrahlte, als wäre die in die Fasern seiner Kleidung eingewebt.
Während er beobachtete, wie er den reichen Lords würdevoll grüßend zunickte, wurde Kiran wieder einmal bewusst, dass Renchald genauso zweifelsfrei der Herrscher über den Tempel war wie Alessandra die Königin von Sorana.
Dann fiel sein Blick auf Clea, die der strahlende Mittelpunkt einer Gruppe von Federn und Flügeln war. Abrupt wandte Kiran seine Augen von ihr ab. Er und Brock wühlten sich nun durch die Menschenmenge in Richtung Bühne, weg vom Meisterpriester und weg von Clea und ihren Bewunderern.
Bryn entdeckte er bei ihren Freundinnen. Sie leuchtete in einem am Hals offenen Kleid in der Farbe ihrer Augen, einem sanften Goldbraun. Ihr Haar war so frisiert, dass sich weiche Locken um ihr Gesicht ringelten. Als sie ihn erblickte, lächelte sie, warm und strahlend wie
eine Goldrute auf einer Sommerwiese. Neben ihr ragte Dawn ganz in Weiß auf, ihre Größe in Eleganz verwandelt. Beim Sprechen gestikulierte sie lebhaft mit ihren schlanken Händen.
Kiran und Brock kämpften sich durch das Gewühl, um zu den jungen Frauen zu gelangen. Brock hob Willows Hand, küsste ihre Fingerspitzen und sagte leise: »Du bist das Orakel meines Herzens.«
Neben ihr kicherte Alyce los. »Was prophezeit denn dein Orakel?«
Willow lächelte. »Musik und Tanz.«
Kiran stellte sich dicht neben Bryn und Jacinta, mit dem Rücken zur Wand, die sich wohltuend solide anfühlte und ihn stützte, als er den Eintritt der Gilgamelltruppe beobachtete.
Die vier Troubadoure bestiegen die Bühne und verbeugten sich vor dem Publikum. Avrohom, der rothaarige Sänger, prachtvoll gekleidet in einem cremefarbenen, schwarz bestickten Anzug, trat an den Bühnenrand und wartete, bis alle still waren. Sein verschmitzter Blick überflog die Halle. »Meine Damen und Herren, wieder haben wir das große Glück, mit Euch das erneute Erstarken von Solz zu feiern, die Wintersonnenwende.« Er hob die Hand und ließ sie mit einer
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