Das Licht des Orakels
aufsteigen. Und trotzdem war das auch etwas, was sie wollte. Sie sehnte sich danach, ihm nahe zu sein, wirklich nahe, nicht nur Seite an Seite die Arbeit zu erledigen, bei der keiner etwas von sich preisgab.
Jack rannte auf sie zu und warf sie spielerisch mit den Pfoten um. Kiran aber hielt nicht an, sondern winkte ihr nur zu, bevor er weiter auf den Wald zuging.
»Ich sollte ihm nachlaufen«, flüsterte Bryn sich selbst zu. »Ihm sagen, dass es mir Leid tut. Damit das klar ist.«
Sie lief los, aber bald wurden ihre Schritte langsamer.
War es denn nicht deutlich, dass er lieber allein war?
Wenn ihm nach ihrer Gesellschaft zumute gewesen wäre, hätte er angehalten und mit ihr gesprochen.
Sie bog vom Weg ab, in den Wald hinein. Da fühlte sie sich getröstet. Sie zwängte sich durch das dicht stehende Unterholz bis zu einem großen, aus dem Boden herausragenden Felsblock. Sie kletterte hinauf und kauerte sich in eine Vertiefung, um nachzudenken. Wie sehr fehlte ihr der Wind, der in den Bäumen rauschte und an den Knospen der Blätter rüttelte. Clea hatte ihr dieses Geräusch genommen.
Kirans Worte ging ihr nicht aus dem Kopf: Flüche werden gelegt, also können sie auch wieder aufgehoben werden … Die Götter würden sich nicht wegen eines einzigen Fehlers von dir abwenden … Vertraust du mir genug, um mich deinen Geist mit meinem verbinden zu lassen?
Und jetzt würde sie sich mit ihm verbinden lassen, ganz offiziell und in Gegenwart des Meisterpriesters.
Sie erinnerte sich daran, was Kiran über die Suche nach Cleas Fluch gesagt hatte: … dass er sich vom Rest deiner inneren Landschaft unterscheidet … Vielleicht versucht er, zu tun, als gehöre er dort hin, aber irgendwie wird er herausstechen.
»Innere Landschaft« war ein Ausdruck, den der Meisterpriester gebrauchte, als er sie die Begriffe lehrte, die sie für die paarweise Prophezeiung kennen musste, Konzepte wie »Abanya« und »Traumkörper«. Bryn fragte sich, wie lange er Kiran schon ausbildete.
»Das, was Renchald mir beigebracht hat, sollte ich benutzen, um selbst nach dem Fluch zu suchen«, sagte sie leise. »Jetzt. Bevor Kiran und ich verbunden werden.«
Ja, genau das würde sie tun. Sie schloss die Augen und rief sich in Erinnerung, wie der Meisterpriester ihr geholfen hatte, sie in ihren Traumkörper zu leiten: Entsinne dich an einen Ort, an dem du dich im Einklang mit dir selbst gefühlt hast. Bryn würde an die Felder von Uste denken und an die strahlende Distelwolle, die sie an dem Tag gesehen hatte, an dem sie zum Tempel aufgebrochen war.
Auf diesem harmonischen Gedanken bewegte sich
Bryn in ihren Traumkörper. Sie fühlte den schon vertrauten Sinn für Licht sich verfestigen, das ganz besondere Prickeln, als sie ihr Bewusstsein von der normalen Existenz auf das ätherische Leben umstellte.
Sie betrat ihre innere Landschaft.
Wenn sie sie unter Renchalds Anleitung besuchte, ließ er ihr keine Zeit für Erkundungen. Aber jetzt, alleine und ungestört, würde sie sich alles ansehen, was sie konnte.
Die Füße von Bryns Traumkörper fühlten sich hier auf diesem Boden leicht und empfindlich an, einem Boden, der dem der Erde ähnlich, aber doch anders war. Auch der Himmel hier war anders, statt blau strahlte er dunkelgolden. Die Blumenwiesen leuchteten in den Farben von Juwelen. Forellen schwammen in einem Bach. Nicht weit entfernt schimmerte ein Wäldchen in dem goldenen Licht.
Bryn hatte gelernt, dass alles in dieser Landschaft einen Teil ihres eigenen Geistes widerspiegelte. Sie musste also nach etwas suchen, das nicht in diese Landschaft zu gehören schien. Ab und zu beugte sie sich nieder, um einen Stein oder einen Dornenzweig genauer zu betrachten, doch alles wirkte so, als wäre es, wie es sein sollte.
Sie kam zu einem Brunnen mitten auf einer Wiese. Sie untersuchte die Steine seiner Umrandung, Steine, die so aussahen, als stammten sie aus dem Steinbruch ihrer Kindheit, grob behauen, aber gut zusammenpassend. An einer Winde hing ein Eimer über dem Wasser.
Eine Gewissheit stieg in ihr auf: Aus diesem Brunnen habe ich meine Prophezeiungen geschöpft.
Sowohl der Eimer als auch die Kette, an der er hing, wirkten neu und hatten einen stählernen Glanz wie nichts anderes in dieser Landschaft. Der Eimer warf seinen Schatten auf das Wasser des Brunnens und seinen Boden.
Ein Stängel kratzte Bryns Hand. Sie kniete sich hin, um die Pflanze zu besehen, zu der er gehörte. Es war dunkel neben dem Brunnen, dunkler als es eigentlich
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