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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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viel weiß er?
    Was wäre, wenn er ihr etwas zeigen könnte, um Cleas Fluch aufzuheben? Wenn sie lernen könnte, die Stimme der Prophezeiung wieder zu hören? Wenn ihre Visionen wieder klar und vollständig ankämen?
    Wenn nicht, bin ich nicht weniger, als ich jetzt bin.
    »Was muss ich dafür tun?« Sie blickte den Meisterpriester direkt an und zwang sich, ebenso undurchdringlich zu schauen wie er.
    »Du wirst von mir ausgebildet werden. Deine Schreibfeder brauchst du nicht mitzubringen. Alles muss im Gedächtnis bleiben, es darf nichts aufgeschrieben werden.
    Und du darfst mit niemandem über diese Ausbildung sprechen.« Der Ring der Götter glitzerte an seinem Finger und erinnerte sie an den Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Dort wird sie mit anderen ihrer Art zusammen sein. Sie wird dem Orakel dienen, hatte er gesagt.
    Die Statue des Geiers hockte bedrohlich auf ihrem Sockel. Ob sie verrückt würde, wenn sie von diesen schwarzen Marmoraugen und dem Meisterpriester beobachtet würde? Aber wenn sie nicht bereit war, sich von
    ihm unterrichten zu lassen, konnte sie ebenso gut nach Uste zurückkehren. Entweder das oder sie blieb in dem trostlosen Tempel, wurde eine ältere Helferin, vom Wind verlassen und aller Visionen beraubt.
    Das Wandbild des Geierfalken starrte Bryn an, als sie zum Zeichen des Einverständnisses nickte.

 
     
     
Frühling
     
     
18
     
    Der Frühling war gekommen und ließ den Wind nach knospenden Blättern und frischen Blumen riechen. Die Stadt Tunise blühte auf. Viele Leute arbeiteten daran, auf den Straßen die Schäden von Schnee, Regen und vielen Reisenden zu reparieren.
    Stadtgespräch war die Gilgamelltruppe. Sie würde ein Konzert unter freiem Himmel auf der Gemeindewiese geben. Fast niemand in Tunise wollte dann zu Hause bleiben.
    Lance überredete Selid, mit ihm hinzugehen. Obwohl sie sich nach der Musik sehnte, zögerte sie, sich so vielen Menschen zu zeigen.
    »Und was ist, wenn der Meisterpriester Spione in der Menge hat?«, fragte sie.
    »Trag dein hässlichstes Kopftuch und keiner wird dich erkennen«, meinte Lance lächelnd, und seine braunen Augen strahlten dabei vor Vorfreude, die berühmten Troubadoure zu hören. Der Tempel machte ihm nicht solche Angst wie ihr. Hatte Monzapel sie nicht bisher behütet und geleitet?
    Als sie auf der Wiese ankamen, die vor freudig erregten Menschen wimmelte, hatte Selid ein flaues Gefühl im Bauch. Sie ermahnte sich, sich zu entspannen, doch das gelang ihr nicht so recht. Hunderte von unbekannten Leuten drängelten, schoben und drückten sich nah an sie, zu nah. Lance schien das nichts auszumachen. Er besorgte Selid und sich selbst einen guten Platz und dann vergaß er alles außer der Gilgamelltruppe.
    Von dem Moment an, in dem die Troubadoure auftraten, war Selid klar, dass sie nicht hätte herkommen dürfen. Sie sah ein Leuchten um sie herum, ein ätherisches Leuchten, das nichts mit der Sonne zu tun hatte. Sie versuchte, es nicht zu beachten, doch je mehr sie sich bemühte, desto mehr gewann es an Kraft, bis es sich gegen ihre Stirn presste wie eine geballte Faust voller Licht.
    Sie konnte ihr seherisches Auge nicht verdunkeln.
    Licht hämmerte und pulsierte, vermischte sich mit der Musik, schwärmte in ihren Kopf. Sie rang um Gelassenheit, rang um Luft.
    Sie sagte Lance, sie fühle sich nicht gut, und ging weg, stolperte durch einen Wald von harten Schultern und spitzen Ellbogen auf den Rand der Menschenmenge zu, ohne sich umzusehen, ob Lance ihr folgte oder nicht, völlig überwältigt von dem zwingenden Gefühl, wegzumüssen. Natürlich folgte er ihr. Schließlich holte er sie ein und half ihr, sich einen Weg aus der Menschenmenge zu bahnen. Endlich draußen, sank Selid auf den Boden, hielt sich den Kopf und atmete schwer.
    Lance setzte sich daneben, legte den Arm um sie und sagte beruhigend: »Es ist doch alles in Ordnung. Alles in Ordnung.«
    »Selid, bist du das wirklich?«
    Die Stimme dicht bei ihnen erschreckte Selid furchtbar. Dann blickte sie auf und sah ein vertrautes Gesicht über sich gebeugt.
    Dawn! Es war die große Helferin, die sie aus dem Tempel des Orakels kannte. Es schien ein schlechtes Zeichen zu sein, dass sie gerade in dem Augenblick auftauchte, in dem Selid darum kämpfte, sich vor dem Licht des Orakels zu verschließen. Was tat sie hier? Sie war nicht wie eine Helferin gekleidet, eher wie eine Prinzessin, an Hals und Handgelenken funkelten Saphire. Vielleicht war sie eine Erscheinung.
    Dawn

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