Das Licht des Orakels
Strahlen blendenden Lichts, fand sich Selid in einer Nische stehend wieder, die in eine mächtige Steinsäule eingearbeitet war, eine von Dutzenden von Säulen, die das Gewölbe einer Halle trugen. Wäre ein Adler bis unter die Kuppel geflogen, hätte man ihn nur noch als Punkt gesehen. Auf dem Marmorboden stand eine große Anzahl hochrangiger Damen und Herren.
Einige Meter entfernt saß Königin Alessandra auf einem Thron. Sie trug ihre Krone, doch die wirkte zu schwer für ihren schlanken Hals und ihre gebeugten Schultern. Ihre Augen, dunkel gerändert und traurig, leuchteten würdevoll und beherrscht. Neben ihr standen Soldaten in grünen Wämsern und mit Schwertern am Gürtel.
Von einem kleineren Thron aus beobachtete eine
schmerzhaft dünne junge Frau das Geschehen. Ein Diadem aus Opalen funkelte auf ihren schwarzen Haaren, ihr purpurrotes Gewand war mit Opalen geschmückt, doch es war ihr Gesicht, das Selids Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Haut war beinahe durchscheinend, feine blaue Adern waren fast direkt darunter sichtbar. Die klugen Augen, viel zu groß für die blassen Höhlen, waren glasig von Tränen, die nicht fließen wollten.
Die Stimme des Orakels dröhnte wie Totenglocken durch Selids Kopf: Prinzessin Zorienne, kurz vor ihrem Tod, vergiftet durch die Hand Mednonifers, dem Leibarzt der Königin. Zugeführt nicht in Nahrung oder Getränk, sondern durch die Luft, die sie beim Schlafen atmet.
Dann sah Selid flüchtig ihren früheren Mentor, den Meisterpriester, der eine an Königin Alessandra gerichtete Prophezeiung schrieb.
Falsche Prophezeiung, sagte das Orakel.
Einige Tage später ging Kiran bei Nacht den vertrauten Weg an der Weide vorbei, Jack an seiner Seite. Am Zaun, dort, wo er Bryn oft sitzen gesehen hatte, unberührt vom Wind, hielt er an. Das Licht der Sterne legte einen silbrigen Schimmer über alles und beleuchte schwach den alten Zaunpfosten.
Kiran lehnte sich dagegen. »Wie dumm ich gewesen bin!«, sagte er. »Fehler über Fehler!«
Jack spitzte die Ohren.
Kiran hob das Gesicht zum stillen Himmel. »Niemals hätte ich mit Clea paarweise prophezeien dürfen.«
Früher am Tag hatte Renchald wieder einmal nach Informationen über Selid gefragt. Dieses Mal hatten Kiran und Clea sie gesehen.
Sie schrieb eine Prophezeiung.
Kiran hatte die Verbindung sofort getrennt, doch nicht schnell genug.
Die Tinte war wie Blut aus der Feder des Meisterpriesters geflossen, als er niederschrieb, was Clea gesehen hatte.
»Ich habe Bryn nicht geholfen«, sagte Kiran zu Jack.
»Stattdessen habe ich denen geholfen, die ich verachte.«
Und jetzt wollte der Meisterpriester damit anfangen, ihn mit Bryn paarweise prophezeien zu lassen.
»Ich will nicht!«, sagte Kiran zum Himmel hinauf.
»Renchald kann mich in der Wüste aussetzen oder mich zurück in die Gosse werfen.« Er blickte in Jacks ungleiche Augen. »Und ich schwöre bei Ellerth, dass ich nicht noch einmal mit Clea paarweise arbeite!«
Am nächsten Tag, dem unterrichtsfreien Tag, sah Bryn zu, wie der Wind über den See tanzte und die Oberfläche kräuselte. Eine Brise rauschte durch das Gras, bis sie die Anhöhe erreichte, auf der Bryn alleine saß. Da legte sich der Wind. Bryn sagte sich, sie müsste sich doch langsam daran gewöhnt haben, aber das hatte sie nicht.
Da hörte sie Jacks Bellen und sah Kiran mit Jack an der Seite um den See herum auf sich zu kommen. Ihre Gefühle kamen durcheinander, strudelten und stürmten, als er mit seinen großen Schritten näher kam.
Die Fremdheit zwischen ihnen, die nach dem Sonnwendball begonnen hatte, war geblieben. Sie arbeiteten zwar weiter zusammen, aber Kiran benahm sich dann immer so, als wünsche er sich nichts mehr, als alleine zu sein. Manchmal unterbrach er die Arbeit und blickte ins Leere. Einmal hatte Bryn vorsichtig gefragt, was ihn bedrückte, aber er hatte nur heftig mit den Schultern gezuckt.
Und wenn ich es bin?, hatte sie sich gefragt.
Gestern hatte ihr der Meisterpriester eröffnet, dass sie nun für die paarweise Prophezeiung bereit sei und dass Kiran ihr Partner wäre. Mit seiner Hilfe wirst du klarere und deutlichere Visionen haben. Nach ihrem Einverständnis hatte er nicht gefragt, und irgendetwas in seiner Stimme hatte ihr Angst gemacht, als er sagte: »Die, die begabt sind, sind dem Tempel zum Dienst verpflichtet.«
Wenn Bryn sich vorstellte, dass sie sich paarweise mit Kiran zum Prophezeien verbinden sollte, spürte sie eine an Panik grenzende Unruhe in sich
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