Das Licht ferner Tage
nach dem passenden Wort. »… ein Phänomen. Sind seiner Geschäftstüchtigkeit denn keine Grenzen gesetzt? Und was gibt’s Neues von Kate?«
»Die Jury ist einberufen.«
»Ich dachte, es handelt sich um einen Indizienprozess.«
»Das ist schon richtig. Aber wenn man sieht, dass sie zum Zeitpunkt der Tat am Computer saß und als Täterin in Frage kommen könnte… Ich glaube, das hat die Geschworenen gegen sie eingenommen.«
»Was wirst du tun, wenn sie verurteilt wird?«
»Das weiß ich noch nicht.« Er wusste es wirklich nicht. Der Ausgang der Verhandlung war ein Schwarzes Loch, das Bobbys Zukunft zu verschlingen drohte. Also verdrängte er die ganze Sache.
»Ich habe Heather besucht«, sagte er. »Es geht ihr gut, trotz allem. Sie hat die LiveBio von Lincoln bereits veröffentlicht.«
»Gute Arbeit, die sie da geleistet hat. Und die Beiträge zum Aralsee-Krieg waren bemerkenswert.« David musterte Bobby. »Du musst stolz auf sie sein – auf deine Mutter.«
»Das sollte ich wohl«, sagte Bobby nach kurzer Überlegung. »Aber bin mir meiner Gefühle für sie nicht sicher. Ich habe sie zusammen mit Mary gesehen. Trotz aller Reibungen existiert ein Band zwischen ihnen. Es ist, als ob sie durch ein Stahlseil verbunden seien. Ich fühle nichts dergleichen. Es liegt wahrscheinlich an mir…«
»Was ist los mit Mary?«
Bobby sah ihn an. »Du weißt es wohl noch nicht. Mary ist von Zuhause ausgezogen.«
»Ach… Das ist bedauerlich.«
»Anlass war eine Auseinandersetzung über Marys Nutzung der WurmCam. Heather vergeht schier vor Sorge.«
»Wieso sucht sie Mary nicht?«
»Sie hat’s schon probiert.«
David schnaubte. »Lächerlich. Wie sollte sie sich vor der WurmCam verstecken?«
»Anscheinend gibt es Mittel und Wege… Schau mal, David, ist es nicht an der Zeit, dass du dich wieder in die Gemeinschaft der Menschen integrierst?«
David rang die Hände. Der große Mann war tief bekümmert. »Es ist unerträglich«, sagte er. »Das ist sicher auch der Grund, weshalb Mary abgehauen ist. Du weißt, ich habe es versucht. Ich habe nach einem Weg gesucht, die Dinge wieder ins Lot zu bringen und die Wunden zu heilen, die die Vergangenheit geschlagen hat. Und habe dabei herausgefunden, dass niemand in der Lage ist, an der Vergangenheit zu rütteln. Nicht einmal Gott. Mir liegen experimentelle Beweise vor. Begreifst du das denn nicht? Der Anblick dieser ganzen Grausamkeiten… Wäre ich imstande, nur ein Kreuzfahrer-Schwert abzulenken und das Leben eines Arawak-Kindes zu retten…«
»Deshalb flüchtest du dich in Metaphysik.«
»Was sollte ich denn sonst tun?«
»Du kannst die Wunden der Vergangenheit nicht heilen. Aber du kannst dich selbst heilen. Arbeite wieder bei den Zwölflausend Tagen mit.«
»Ich sagte dir bereits…«
»Ich werde dir helfen. Ich werde dir zur Seite stehen. Tu es, David. Finde Jesus.« Bobby lächelte. »Ich verlange es von dir.«
Nach langem Schweigen lächelte auch David.
9
SEHT DEN MENSCHEN
Auszug aus der Einführung von David Curzon in »Die 12.000 Tage: Ein vorläufiger Kommentar«, Hrsg. S. P. Kozlov und G. Risha, Rom, 2040
Das internationale Wissenschaftsprojekt, das der Öffentlichkeit als die 12.000 Tage bekannt ist, nähert sich dem Abschluss der ersten Phase. Ich gehörte zu einer Gruppe von etwas mehr als zwölftausend WurmCam- Beobachtern weltweit, die den Auftrag hatten, das Leben und das Umfeld des Manns zu studieren, den Seine Zeitgenossen als Yesho Ben Patera kannten und den nachfolgende Generationen als Jesus Christus kennen lernten. Es ist eine Ehre, mit dem Verfassen dieser Einführung betraut worden zu sein…
Wann immer wir Jesus im Evangelium begegnen, wissen wir, dass wir Ihn mit den Augen der Evangelisten sehen. Matthäus zum Beispiel glaubte, der Messias sei in Bethlehem geboren, wie Micha, ein Prophet des Alten Testaments es vorhergesagt hatte. Also berichtet er, Jesus sei in Bethlehem geboren (obwohl Jesus, der Galiläer, in Wirklichkeit – was auch nahe liegt – in Galiläa geboren wurde).
Wir haben Verständnis für diesen Irrtum und stellen ihn hiermit richtig. Wieviel Christen werden sich im Lauf der Jahrhunderte wohl gewünscht haben, die Worte Jesu im Originalton zu hören – oder noch besser, Ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen? Und wer hätte gedacht, dass unsre Generation die erste wäre, für die eine solche Begegnung in greifbare Nähe rückt?
Dieser Fall ist nun eingetreten.
Jedem der Zwölftausend
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