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Das Licht ferner Tage

Das Licht ferner Tage

Titel: Das Licht ferner Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur C. Clarke , Stephen Baxter
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Niemanden traf eine Schuld – außer dem kosmischen Schöpfer, sagte er sich mit einem Anflug von Zorn, der etwas so Kostbares wie die Seele eines Sechsjährigen in einem so zerbrechlichen Behälter deponiert hatte.
    Das erste Mal, als Mary (und nun David als heimlicher Beobachter) diesen Vorfall Revue passieren ließ, hatte sie einen bemerkenswerten WurmCam- Blickpunktgewählt: Sie hatte die Szene mit den Augen der kleinen Mary betrachtet. Der Blickpunkt schien sich mitten in ihrer Seele zu befinden, an jenem geheimnisvollen Ort, wo ihr Ich wohnte, umgeben von der Mechanik des Körpers.
    Mary sah den Jungen fallen. Sie reagierte, streckte die Arme aus und machte einen Schritt auf ihn zu. Er schien langsam zu fallen, wie im Traum. Doch sie war zu weit von ihm entfernt und vermochte den Gang der Ereignisse nicht aufzuhalten.
    Und nun musste David in Ausübung seiner Spionage-Tätigkeit denselben Vorfall aus der Perspektive des Vaters betrachten. Er hatte das Gefühl, von einem Aussichtsturm herunterzublicken. Klein-Mary zeichnete sich als Schemen unter ihm ab, und der Junge als dunkler Schatten über dem Kopf. Das Ereignis entfaltete sich mit unerbittlicher Logik: Der Verlust des Gleichgewichts, der Fehltritt, der Junge, der von den Schultern des Vaters rutschte und mit dem Kopf auf den steinigen Boden fiel.
    Was Mary mit wahrer Besessenheit immer und immer wieder beobachtete, war aber nicht der Tod selbst, sondern die Momente, die ihm vorausgingen. Als der kleine Tommy fiel, war Mary nur einen Meter von ihm entfernt, doch selbst das war zu viel. Und von den rettenden Händen des Vaters trennten ihn sogar nur ein paar Zentimeter, eine Reaktionszeit von einem Sekundenbruchteil. Es hätten ein Kilometer und eine Verzögerung von Stunden sein können; es wäre auf dasselbe hinausgelaufen.
    Aus diesem Grund hatte ihr Vater wohl auch Selbstmord begangen, sagte David sich. Nicht wegen der Publizität, der er und die Familie plötzlich ausgesetzt waren – obwohl sie ihm auch nicht geholfen hätte. Wenn er auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Mary hatte, musste er sofort erkannt haben, welche Weiterungen die WurmCam für ihn hatte. Wie für Millionen andere, die die Möglichkeiten der WurmCam und die Dunkelheit in ihren Herzen entdeckten.
    Wie hätte man den leidgeprüften Vater auch dazu bringen können, sich das nicht anzusehen? Wie hätte er diesen schrecklichen Moment nicht immer wieder durchleben müssen? Wie hätte er sich von dem Kind abwenden können, das quicklebendig in der Maschine gefangen war – ohne dass er imstande gewesen wäre, den Sohn wieder zum Leben zu erwecken?
    Und wie konnte dieser Vater in einer Welt weiterleben, wo der schreckliche Vorfall auf Knopfdruck abrufbar war, jederzeit und aus jeder Perspektive – und das im Bewusstsein, hilflos zusehen zu müssen?
    Im Vergleich dazu nahmen die grausamen Episoden der Kirchengeschichte sich wie Kintopp aus, sagte David sich: Episoden, die Jahrhunderte von der Realität entfernt waren. Von Kolumbus’ Verbrechen war heute niemand mehr betroffen; höchstens geriet Kolumbus selbst dadurch in Misskredit. Mary hatte ungleich größeren Mut bewiesen, als sie sich dem Moment stellte, der ihr Leben geprägt hatte.
    Das ist der Kern der WurmCam- Erfahrung, sagte er sich: Kein feiges Spionieren oder Voyeurismus, auch nicht die Betrachtung weit zurückliegender Perioden der Geschichte, sondern die Gelegenheit, sich mit den Schlüsselmomenten des eigenen Lebens auseinander zu setzen.
    Aber meine Augen sind nicht dazu bestimmt, solche Dinge zu schauen. Mein Herz verkraftet solche Enthüllungen nicht. Früher sagte man, die Zeit heile alle Wunden. Heute sind wir der heilenden Wirkung der Entfernung beraubt.
    Uns sind die Augen Gottes verliehen worden, dachte er, Augen, mit denen wir die unabänderliche blutige Vergangenheit so plastisch wahrnehmen, als wären wir mittendrin im Geschehen. Aber wir sind eben nicht Gott, und das grelle Licht der Geschichte wird uns vielleicht verbrennen.
    Zorn wallte in ihm auf. Unabänderlichkeit. Er war nicht mehr bereit, sich mit dieser Ungerechtigkeit abzufinden. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit…
    Zuvor würde er sich eine Erklärung für Heather einfallen lassen müssen.
     
    Als Bobby nach ein paar Wochen wieder einmal bei David vorbeischaute, erschrak er über dessen Zustand.
    David trug eine sackartige Springerkombination, die ihm auch als Schlafanzug zu dienen schien. Das Haar war strubbelig, und er hatte einen

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