Das Licht ferner Tage
Finger wegnahm, sah er, dass sie feucht waren.
Und nun spürte er, wie sein Körper von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde, die sich zu einem Weinkrampf steigerten. Heiße Liebe und unerträglicher Schmerz durchfluteten ihn in einem süßen Wechselbad der Gefühle.
12
RAUMZEIT
Das innere Chaos dauerte an.
Er versuchte sich abzulenken und widmete sich Aktivitäten, an denen er früher Gefallen gefunden hatte. Selbst das extravaganteste virtuelle Abenteuer erschien ihm jedoch nun seicht, künstlich, vorhersehbar und langweilig.
Er schien Menschen zu brauchen, obwohl er vor denen zurückscheute, die ihm nahe standen – er war wie eine Motte, sagte er sich, die das Licht der Emotionen scheute, die mit zwischenmenschlichen Beziehungen einhergingen. Also nahm er Einladungen an, die ihm sonst nie wichtig gewesen wären, und sprach mit Leuten, die er nie zuvor beachtet hätte.
Um sich abzulenken, stürzte er sich in die Arbeit, die mit der starren Routine von Besprechungen, Terminen und Ressourcen-Allokation seine volle Aufmerksamkeit beanspruchte.
Und er hatte viel zu tun. Die neuen GeistigesAuge- VR-Stirnbänder verließen die Prüflabors und näherten sich der Serienreife. Techniker-Teams hatten in letzter Minute einen Defekt behoben: Es hatte die Gefahr bestanden, dass die Stirnbänder Synästhesie bei den Benutzern hervorrief – eine Überlagerung der sensorischen Inputs, die durch Impulsübertragung zwischen den Gehirnzentren verursacht wurde. Was man ausgiebig feierte. Sie wussten, dass das renommierte Watson-Forschungslabor von IBM an der gleichen Problematik gearbeitet hatte. Wer das Synästhesie-Problem zuerst löste, würde sein Produkt als Erster auf den Markt bringen und auf absehbare Zeit einen Wettbewerbsvorteil erlangen. Es sah nun so aus, als ob OurWorld dieses Rennen gewonnen hätte.
Also stürzte er sich in die Arbeit. Er vermochte jedoch keine vierundzwanzig Stunden am Tag zu arbeiten, und es war auch keine Lösung, die restliche Zeit zu verschlafen. War er jedoch wach, geriet sein Bewusstsein, das die Ketten gesprengt hatte, völlig außer Kontrolle.
Wenn seine Fahrzeuge ihn zum Wurmwerk chauffierten, kauerte er sich aus Angst vor dem Hochgeschwindigkeitsverkehr auf dem Sitz zusammen. Die kurze Meldung einer Boulevardzeitung über Massaker und Vergewaltigungen im eskalierenden Wasserkrieg um den Aralsee rührte ihn zu Tränen. Ein Sonnenuntergang über dem Meer, der durch die aufreißende schwarze Wolkendecke zu sehen war, erfüllte ihn mit ehrfürchtigem Staunen – allein des Umstands wegen, dass er überhaupt erleben durfte.
Bei der Begegnung mit seinem Vater schwankte er zwischen Furcht, Abscheu, Liebe und Bewunderung – wobei all diese Emotionen ein tieferes, unzerreißbares Band überlagerten.
Immerhin vermochte er Hiram gegenüberzutreten. Bei Kate war das etwas anderes. Er wurde vom Bedürfnis überwältigt, sie zu liebkosen, sie zu besitzen, sie irgendwie zu verzehren. In ihrer Gesellschaft verschlug es ihm schier die Sprache, und er verlor die Kontrolle über Körper und Geist.
Irgendwie vermochte sie sich in ihn hineinzuversetzen, und gerade deswegen ließ sie ihn allein. Er wusste, dass sie für ihn da sein würde, wenn er bereit war, ihr gegenüberzutreten und ihre Beziehung zu vertiefen.
Immerhin war er in der Lage, seine Gefühle für Hiram und Kate zu erklären, Kausalzusammenhänge herzustellen und die heftigen Emotionen zu benennen, die ihn erschütterten. Am schlimmsten waren die Stimmungsschwankungen, die ihn ohne ersichtlichen Grund heimsuchten.
Er wachte mitten in der Nacht auf und brach grundlos in Tränen aus. Und dann verspürte er an einem ganz normalen Tag eine unbeschreibliche Freude, als ob alles plötzlich einen Sinn ergebe.
Sein früheres Leben schien weit entfernt, diffus wie eine Radierung. Nun war er in eine neue Welt aus Farben und Gestalt und Licht und Gefühl eingetaucht, wo selbst die einfachsten Dinge – ein sich entfaltendes Blatt im Frühling, schimmernde Lichtreflexe auf dem Wasser, die geschwungene Kurve von Kates Wange – von einer Schönheit durchdrungen waren, von deren Existenz er bisher nichts gewusst hatte.
Und Bobby – das fragile Ego, das auf der Oberfläche dieses inneren Meers dümpelte – würde lernen müssen, mit der neuen vielschichtigen Person zu leben, in die er sich so plötzlich verwandelt hatte.
Deshalb suchte er die Nähe seines Bruders.
Er empfand die Präsenz Davids, dessen stoische Ruhe als
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