Das Licht ferner Tage
Monaten wird er unvorsichtig, und Sie kommen ihm auf die Schliche.« Er musterte sie erneut. »Erinnern Sie sich noch, was Sie mir diesbezüglich gesagt haben?«
»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt«, erklärte Kate zögernd. »Ich glaube, dass Kingsley auf irgendeiner Ebene beschlossen hat, mir die Schuld wegen des Babys zu geben. Und dann hat er sich anderweitig orientiert. Zumal ich mich nach der Fehlgeburt in die Arbeit gestürzt hatte. Der Wurmwald… Ich glaube, Kingsley war eifersüchtig.«
»Also hat er die Aufmerksamkeit, nach der er sich sehnte, bei jemand anders gesucht.«
»So etwas in der Art. Nachdem ich es herausgefunden hatte, warf ich ihn raus.«
»Er behauptet aber, er sei von sich aus gegangen.«
»Dann ist er eben ein verlogenes Arschloch.«
»Aber wir haben den Vorfall gerade beobachtet«, sagte Manning sanft. »Ich habe weder bei Ihnen noch bei ihm irgendein Anzeichen für klare Entscheidungsfindung und konsequente Handlungen gesehen.«
»Es ist egal, was die WurmCam zeigt. Die Hauptsache ist, dass ich die Wahrheit kenne.«
Manning nickte. »Ich will hier gar nicht bestreiten, dass Sie uns erzählen, was Sie für die Wahrheit halten, Kate.« Er beugte sich über sie und setzte sein abstoßendes eulenartiges Lächeln auf.
»Sie lügen nicht. Das ist aber nicht das Problem. Erkennen Sie das denn nicht?«
Kate betrachtete ihre eingeklemmten Hände.
Sie legten eine Pause ein. Bobby durfte nicht bei ihr sein.
Kates Behandlung war nur eins von vielen Experimenten, die durchgeführt wurden, während Politiker, Juristen, Interessenverbände und engagierte Bürger fieberhaft daran arbeiteten, die eminenten Weiterungen der WurmCam – deren volle Tragweite die Bevölkerung noch gar nicht erfasst hatte – in die Zivil- und Strafprozessordnung zu integrieren. Und, was eine noch größere Herausforderung darstellte, ins Naturrecht.
Die Quintessenz war, dass man physikalische Wahrheiten plötzlich viel leichter zu etablieren vermochte.
Die Prozessordnung stand vor tiefgreifenden Umwälzungen. Viele Verfahren würden jetzt ruhiger und sachlicher ablaufen und nicht mehr von der Schauspielkunst der Angeklagten oder den Winkelzügen der Rechtsanwälte beeinflusst werden. War die WurmCam erst einmal bei allen Gerichten zugelassen, durfte man mit jährlichen Einsparungen in Milliardenhöhe rechnen: Die Verfahren würden kürzer sein, und es würde mehr Vergleiche und Schlichtungen geben.
Außerdem könnte man bei wichtigen Verhandlungen künftig nicht nur die reinen Fakten würdigen, sondern auch Motive und Intentionen. Deshalb wurde ein Psychologe wie Manning zu Kates Fall hinzugezogen.
Während mit WurmCams bewaffnete Ermittler mit Elan ungelöste Fälle wieder aufnahmen, rollte eine Lawine neuer Verfahren auf die Gerichte zu. Ein paar Kongressabgeordnete hatten angeregt, zwecks Maximierung der Aufklärungsquote eine Generalamnestie zu verkünden, die auf minderschwere Vergehen sich erstreckte, die bis zu einem Kalenderjahr vor der Erfindung der WurmCam begangen worden waren. Im Gegenzug sollte für den Personenkreis, für den diese Amnestie galt, der Schutz des Fünften Verfassungszusatzes aufgehoben werden. Dabei hatten die Ermittlungsbehörden mit der WurmCam ein so mächtiges Werkzeug an die Hand bekommen, dass die Rechte des Fünften Verfassungszusatzes inzwischen Makulatur waren. Dieses Vorhaben war in der Öffentlichkeit umstritten. Den meisten Amerikanern behagte der Gedanke nicht, den Schutz des ›Fünften‹ zu verlieren.
Die Beeinträchtigung der Privatsphäre wurde erst recht kontrovers diskutiert. Umso mehr, weil es bisher keine verbindliche Definition des Rechts auf Privatsphäre gegeben hatte – nicht einmal in Amerika.
Die Privatsphäre wurde in der Verfassung nicht erwähnt. Der Vierte Zusatz der Bill of Rights gewährte zwar Schutz vor Übergriffen des Staats – ließ den Behörden aber einen großen Spielraum für die Observierung der Bürger und bot den Menschen zudem keinen Schutz vor anderen Körperschaften wie Unternehmen, den Medien und nicht einmal vor anderen Bürgern. Aus einem Sammelsurium von Gesetzen auf Staats- und Bundesebene sowie aus einer Vielzahl zivilrechtlicher Präzedenzfälle hatte sich im Lauf der Zeit eine allgemein akzeptierte Definition von Privatsphäre herausgebildet: Zum Beispiel das Recht, ›in Ruhe gelassen zu werden‹ und vor unverhältnismäßigen Beeinträchtigungen durch äußere Einflüsse geschützt zu sein.
All das wurde nun von
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