Das Licht ferner Tage
Karriere als Nazi-Spitzel begonnen hatte – obwohl er sich später wirklich der nationalen Sache zuwandte und 1943 von der SS gefoltert und hingerichtet wurde.
Belgien wird durch die Konfrontation mit der brutalen Wirklichkeit des ›Freistaats Kongo‹ erschüttert, einer straff zentralisierten Kolonie, die man ihrer natürlichen Reichtümer – hauptsächlich Kautschuk – beraubte. Aufrechterhalten wurde das System durch Repression, Grausamkeiten, Mord, Hunger und Krankheit, wodurch von 1885 bis 1906 ganze Stämme ausgerottet und insgesamt acht Millionen Menschen umgebracht wurden.
In den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wird die Zeit des stalinistischen Terrors wieder lebendig. Die Deutschen werden aufs Neue mit dem Holocaust konfrontiert. Die Japaner müssen sich nach mehreren Generationen der Wahrheit über die Kriegsverbrechen im Fernen Osten stellen. Den Israelis wird der Spiegel wegen ihrer Verbrechen an den Palästinensern vorgehalten. Die ungefestigte serbische Demokratie wankt unter dem Ansturm neuer Enthüllungen über die Massaker in Bosnien und anderswo nach dem Zerfall von Jugoslawien.
Und so weiter.
Die meisten dieser Schrecken waren natürlich schon vor der WurmCam bekannt und wurden von seriösen und verantwortungsvollen Historikern auch dokumentiert. Dennoch ist diese endlose Abfolge von menschlicher Grausamkeit, Schmerz und Vergeudung zutiefst Besorgnis erregend.
Es wurden aber noch stärkere Emotionen als nur Besorgnis geweckt.
Jahrhunderte alte ethnische und religiöse Konflikte waren in der Vergangenheit der Auslöser für viele Kriege. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Wir erleben Konflikte zwischen einzelnen Personen, Unruhen, ethnische Auseinandersetzungen, sogar Staatsstreiche und Kriege. Und ein großer Teil des Zorns richtet sich noch immer gegen OurWorld, die Überbringer dieser Hiobsbotschaften ist.
Aber es hätte noch schlimmer kommen können.
Auch wenn scharfe Reaktionen auf alte und zum Teil unbekannte Sünden erfolgten, ist jede Nation zu sehr mit der Aufarbeitung ihrer Verbrechen gegen das eigene Volk und gegen andere beschäftigt, um Sühne von anderen zu fordern. Keine Nation ist ohne Sünde, weshalb auch niemand den ersten Stein werfen will. Und fast jede große Institution – seien es nun Nationen, Kirchen oder Unternehmen – sieht sich gezwungen, für Verbrechen um Verzeihung zu bitten, die in ihrem Namen begangen wurden.
Und wir müssen uns für einen noch größeren Schock wappnen.
Die WurmCam erteilt den Geschichtsunterricht nicht in Form von Vorlesungen mit Hilfe bunter animierter Landkarten. Begriffe wie Ruhm und Ehre sind ihr fremd. Stattdessen konfrontiert sie uns in schonungsloser Offenheit mit der Lebenswirklichkeit der Menschen.
Auch Ruhm und Ehre sind aus der Perspektive der WurmCam nichtig. Sie zeigt uns nämlich, dass jeder sterbende Mensch der Mittelpunkt des Universums ist: Ein einzigartiger Funke aus Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Hass, der allein in die große Dunkelheit eingeht. Es ist, als ob durch die WurmCam die Geschichtsbetrachtung demokratisch legitimiert würde. Wie Lincoln gesagt hätte: nach dieser eingehenden WurmCam- Betrachtung wird ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit geschrieben; Eine Geschichte der Menschen, von den Menschen, für die Menschen.
Worauf es ankommt, ist meine Geschichte – oder die meiner Eltern oder meines Vorfahren, der einen sinnlosen Tod auf dem Schlachtfeld fand oder nach einem harten, entbehrungsreichen Leben auf einem steinigen Acker starb. Mithilfe der WurmCam und mit der Unterstützung großer genealogischer Archive haben wir alle unsere Vorfahren kennen gelernt.
Manche sagen, das sei gefährlich und habe eine destabilisierende Wirkung. Denn die Scheidungs- und Selbstmordwelle, die auf die neue Offenheit der WurmCam folgte, wird nun von einer zweiten Welle gefolgt. Wir vermögen unsere Partner nicht nur in Echtzeit auszuspionieren, sondern bis zu jedem beliebigen Punkt in der Vergangenheit. Jede offene oder versteckte Missetat tritt zutage, und alte Wunden werden aufgerissen. Das ist ein Anpassungsprozess, den eine starke Beziehung jedoch überstehen wird. Zumal solche Folgen nichtig sind im Vergleich zum Geschenk der historischen Wahrheit, das uns zuteil wurde.
Ich schließe mich den Unheilspropheten nicht an. Ich sage, vertrauen wir dem Volk. Gebt uns das Werkzeug, und wir werden die Aufgabe zu Ende bringen.
Es werden – leider unerfüllbare – Forderungen
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