Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)
Schicksale Herr zu werden. Doch bald hatte sich gezeigt, dass dies nicht möglich war. Die Tore der Hallen öffneten sich nicht für die Mächtigen, und die wenige in den unteren Sphären verbliebene Magie erschöpfte sich rasch, bis so wenig davon geblieben war, dass sie nicht einmal mehr den Weg dorthin fanden.
Die Hallen des Schicksals schwebten irgendwo dort draußen, ein göttlicher Thron, auf dem lange niemand mehr Platz genommen hatte; die Spitze eines wolkenverhangenen Bergs, auf den niemand mehr steigen konnte, so menschenleer wie der Mond.
Sarik strich sanft mit der Hand über das Messinggeländer, das ihn vom Zentrum des Artefakts trennte. Es war eine schmerzhafte Erinnerung an seine Körperlichkeit. Navylyns strahlender Ball dagegen war an keiner sichtbaren Strebe befestigt, sondern schien zu schweben, wie das Irrlicht schwebte, nur von einer schimmernden Säule aus Licht getragen.
»Bin ich ein Träumer, weil ich den Schlüssel im Schloss drehen will?«, fragte er. »Wir wurden nicht geschaffen, wie Bettler vor verschlossenen Türen zu leben, unter denen das Licht anderer Welten hindurchscheint.«
»Du sagst geschaffen «, sagte Korianthe, und ihre Miene war nun so hart und feierlich wie die marmornen Säulen. »Doch wer hat uns geschaffen, wenn nicht die Wesenheiten? Wir nannten uns die Mächtigen – doch wem verdankten wir unsere Macht? Ich habegesehen, wie klein wir sind, Sarik. Ich war dort – in Navylyn –, und man hat mir meine Figur gezeigt.« Ihr Blick verlor sich in dem strahlenden Ball. »Ich habe gesehen, was geschah, als wir uns zu sehr nach dem Licht sehnten, von dem du sprichst. Nerian und ich haben immer davor gewarnt – wir dachten, unser Geist, so große Stücke wir auch auf ihn halten, sei zu klein, dieses Licht zu ertragen, und wir würden vergehen wie die Motte, wenn sie die Flamme berührt. Stattdessen hat einer der unseren die Flamme gelöscht. Er beging einen ungeheuren Frevel, als er eine der ihren tötete und sich anmaßte, ihren Platz einzunehmen. Wir alle zahlen den Preis für seinen Verrat – bis heute.«
Sarik schwieg und dachte nach. Das war die alte Korianthe, wie er sie immer gekannt hatte, eine Bewahrerin, auf die Erhaltung der alten Werte bedacht. Und doch hatte sich etwas verändert – vielleicht waren es die achthundert Jahre seines Exils, die sie entzweit hatten, und in denen er das Altern der Welt nicht hatte erleben müssen. Aber da war eine Bestimmtheit in ihren Worten, eine kompromisslose Demut, die ihn überraschte. Natürlich war es falsch gewesen, was Zearis getan hatte. Vielleicht sogar ein Verbrechen. Doch wer konnte schon sagen, wer den Kampf in der alleräußersten Leere begonnen hatte? Vielleicht war es seine einzige Chance zu überleben gewesen.
Die Mächtigen waren sich immer einig gewesen, dass sie zu den Wesenheiten wie Kinder waren, doch damit ging auch eine Verantwortung für beide Seiten einher: Die Eltern hätten sie leiten, hätten ihnen ein Vorbild sein sollen, damit die Kinder sie eines Tages beerben konnten. Wozu sonst sollten sie ihnen ihre Gaben verliehen haben? Doch alles, was sie getan hatten, war, mit ihnen zu spielen – und alles, worauf die Mächtigen hoffen durften, war, ihnen dabei zuzusehen. Hatten sie damit nicht alle auf ihre Weise Schuld auf sich geladen?
Korianthe sah die Zweifel auf seinem Gesicht und kam ein paar Schritte näher. »Ich vermisse den Gesang der Magie genauso wie du, Sarik. Ich lausche jeden Abend auf ihn, und jeden Morgen,und die Stille, die ich höre, lässt mich verzweifeln. Was aber geschähe, wenn wir die Pforten jetzt wieder öffneten? Wenn ich deinem Wunsch nachgäbe, oder dem des wiedergekehrten Verräters, wenn er hier eindringt, um sich den Weg zu neuer Macht und neuem Leben zu erzwingen? Möchtest du den Wesenheiten gegenübertreten? Du sagst, du erinnerst dich wieder, weshalb du bestraft wurdest. Glaubst du, achthundert Jahre sind genug, dass sie es vergessen?«
»Nein«, sagte Sarik.
Korianthe lächelte. »Wenn er besiegt ist, Sarik. Wenn der Verräter ein für alle Mal für seine Sünden gebüßt hat. Dann kann es vielleicht einen Frieden geben zwischen ihnen und uns. Vielleicht können wir dann die Pforten wieder öffnen, erst einen Spalt, und dann immer mehr, und die Wesenheiten werden uns wieder willkommen heißen – selbst dich.«
»Wenn ihr Zorn auf ihn wirklich noch so heiß brennt, wie du sagst, wieso sollte er dann hierherkommen? Wäre es nicht sein Tod, wenn er die Pforten
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