Das Licht Von Atlantis
bist mein Bruder«, versicherte Micon ihm sanft. »Ich habe gesagt, dass ich dich immer noch liebe. Ich verleugne dich nicht. Aber wir müssen uns trennen.« Er beugte sich nieder und legte die verkrüppelte Hand auf den Kopf des Chela.
Laut aufschreiend, krümmte Reio-ta sich. »Micon! Dein Schmerz, er brennt!«
Langsam und mit Mühe richtete Micon sich auf und zog sich zurück. »Geh schnell«, befahl er. Wie gegen seinen Willen setzte er mit schmerzverzerrter Stimme hinzu: » Mehr kann ich selbst nicht ertragen!«
Der Chela sprang auf. Einen Moment betrachtete er den anderen mit einem hungrigen Blick, als wolle er Micons Züge für alle Zeit seinem Gedächtnis einprägen. Dann drehte er sich um und lief stolpernd davon.
Der blinde Initiierte blieb viele Minuten lang unbeweglich stehen. Wind hatte sich erhoben, und trockene Blätter raschelten auf dem Weg und rings um ihn; er merkte es nicht. Schwach, als kämpfe er sich mühsam durch Treibsand, wandte er sich schließlich um und ging auf den Springbrunnen zu, auf dessen feuchtem Steinrand er niedersank. Er kämpfte gegen die brennenden Schmerzen in seinem Körper. Schließlich aber waren seine Kräfte am Ende. Zusammengekrümmt lag er auf den Steinen unter den vom Wind umherwirbelnden Blättern, Sieger über sich selbst, aber so erschöpft, dass er sich nicht mehr bewegen konnte.
Rajasta hatte eine innere Unruhe in den Garten getrieben. Das Gesicht des Wächters war schrecklich anzusehen. Er suchte Micon. Schließlich entdeckte er ihn, hob ihn auf seine starken Arme und trug ihn fort.
Am nächsten Tag wurde das gesamte Tempelpersonal für die Suche nach dem verschwundenen Chela aufgeboten. Riveda, der Begünstigung verdächtigt, wurde viele Stunden lang in Gewahrsam genommen, während man im ganzen Tempelbezirk und sogar unten in der Stadt nach dem unbekannten Chela forschte, der einmal Reio-ta von Ahtarrath gewesen war.
Doch er blieb verschwunden; die Nacht des Nadir war ihnen allen um einen Tag nähergerückt.
14. DIE BERÜHRUNG DES VERHÜLLTEN GOTTES
Etwa drei Monate nach Deoris' Eintritt in den Tempel Caratras begegnete Riveda ihr eines Abends in den Gärten. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne verwandelten die junge Priesterin in eine geheimnisvolle Feengestalt, und Riveda musterte ihren schlanken, blaugekleideten Körper und das ernste, jugendlich zarte Gesicht mit neuem Interesse. Er brachte seine Bitte sorgfältig vor. »Wer sollte dir verbieten, heute Abend mit mir den Grauen Tempel zu besuchen, wenn ich dich dazu einlüde?«
Deoris schlug das Herz höher. Den Grauen Tempel zu besuchen - in der Gesellschaft seines höchsten Adepten! Riveda erwies ihr wirklich eine große Ehre! Dennoch fragte sie misstrauisch: »Warum?«
Der Mann lachte. »Warum nicht? Heute Abend findet eine Zeremonie statt. Sie ist sehr schön - es wird auch gesungen. Viele unserer Feiern sind geheim, aber zu dieser darf ich dich einladen.«
»Ich werde kommen«, erklärte Deoris. Sie sprach sehr ruhig, doch innerlich war sie in heller Aufregung. Karahamas zurückhaltende Mitteilungen hatten ihre Neugier geweckt, nicht nur, was die Graumäntel, sondern auch was Riveda selbst betraf.
Schweigend gingen sie nebeneinander unter den aufgehenden Sternen dahin. Rivedas Hand ruhte leicht auf ihrer Schulter, und Deoris war von seiner Berührung so verschüchtert, dass sie kein Wort sprach, bis sie sich dem hochaufragenden fensterlosen Tempel näherten. Riveda hielt ihr die schwere Bronzetür auf, Deoris trat ein, wich aber sogleich entsetzt vor einer schattenhaften Gestalt zurück, die an ihnen vorbeischlüpfte. Es war der Chela!
Rivedas Hand schloss sich so fest um ihren Arm, dass Deoris beinahe aufgeschrieen hätte. »Sag Micon nichts davon, Kind«, befahl er streng. »Rajasta ist mitgeteilt worden, dass er lebt. Aber Micon würde es töten, wenn er ihm noch einmal begegnete.«
Deoris nickte mit dem Kopf und versprach, das Geheimnis zu bewahren. Seit der Nacht, als sie in Micons Wohnung bewusstlos geworden war und Cadamiri sie fortgetragen hatte, kannte sie Micon fast ebenso gut, wie Domaris ihn kannte. Sie konnte die verborgenen Gefühle und Gedanken im Geist des Atlanters begreifen, nur da nicht, wo es um sie selbst ging. Diese Erweiterung ihres Wahrnehmungsvermögens war so gut wie unbemerkt geblieben; nicht einmal Domaris wusste davon. Deoris lernte ihre Aufgaben im Tempel viel schneller meistern, als man hätte erwarten können. Domaris konzentrierte sich nun
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