Das Licht von Shambala
stoischen Wesen der bhotia 34 , die Lemont in Agra zum Dienst verpflichtet hatte, entstand plötzlich lautes Geschrei. Heisere Stimmen riefen wild durcheinander, die Karawane kam zu einem jähen Halt.
In der Befürchtung, sie könnten in einen Hinterhalt geraten sein, griff Lemont nach seiner Waffe. Der Griff des Revolvers schmiegte sich mit beruhigender Schwere in seine Rechte. Als er hören konnte, wie sich über den matschigen Boden rasche Schritte näherten, hob Lemont die Waffe und zog den Spannhahn zurück und riss im nächsten Moment den Vorhang der Sänfte beiseite.
»Halt!«, rief er dabei laut. »Bleib stehen, Bursche, oder ...!«
Doch der gedrungene Mann, der nur an die fünf Fuß groß war und dessen Gesichtshaut die Farbe und Beschaffenheit von altem Leder hatte, war kein Bandit, sondern der Karawanenführer, dessen Namen sich Lemont nicht merken konnte, obschon der Bergbewohner ihn ständig im Munde führte.
»Nicht schießen, Sahib!«, rief er laut und riss die Arme hoch. Die Augen unter der unförmigen, von Motten zerfressenen Fellmütze waren weit aufgerissen. »Gumpo kein budmaash 35 !«
»Was soll dann das Geschrei?«, fragte Lemont ungerührt. »Warum geht es nicht weiter?«
»Weil, Sahib«, erwiderte der sirdar zerknirscht, »Treiber sich weigern, den Weg fortzusetzen.« Er machte eine tiefe Verbeugung, als fürchte er, Lemont könnte doch noch von seiner Schusswaffe Gebrauch machen.
»Aus welchem Grund?«, fragte dieser stattdessen.
»Haben Angst.«
»Wovor?« Lemonts Augen verengten sich. »Vor Räubern?« Es war bekannt, dass Räuberbanden entlang der Fernstraßen ihr Unwesen trieben und ihren Lebensunterhalt damit verdienten, wehrlose Pilger ihrer Habe zu berauben. Lemont hatte deshalb vorgesorgt und nicht nur sich und seine Geschäftspartner, sondern auch ihre Diener mit hochwertigen Martini-Henry-Gewehren ausstatten lassen. Vor den meist nur mit Knüppeln und Säbeln bewaffneten Banditen sollten sie hinreichend Schutz gewähren.
»Gan«, verneinte der Führer. »Keine Angst vor budmaash. Aber sagen, dass Land des Langa Co ihnen verboten.«
Lemont hob eine Braue. »Seit wann?«
»Seit Gerüchte Runde machen.«
»Was für Gerüchte?«
Der Führer schürzte die Lippen, die er mit Yakbutter beschmiert hatte, um sie vor Kälte und Sonne zu schützen. Er schien nicht antworten zu wollen, sah aber wohl ein, dass er keine Wahl hatte. »Mig-shár«, flüsterte er leise.
»Was?«
»Mig-shár«, wiederholte Gumpo kleinlaut.
»Was bedeutet das?«, fragte Lemont unwirsch. »Du weißt genau, dass ich euer eigenartiges Kauderwelsch nicht verstehe!«
»Bedeuten Mann-mit-einem-Auge«, übersetzte der Führer ins Französische, das er leidlich beherrschte.
»Mann mit einem Auge«, echote Lemont.
»Nicht Gumpo sagen, Leute sagen«, versicherte der Bhotia rasch. »Mig-shár Gestalt aus alter Zeit, alte Geschichten. Aber Treiber sagen, dass in letzter Zeit gesehen.«
»Wo?«, wollte Lemont wissen.
»Rund um den Langa Co«, erwiderte Gumpo und beschrieb mit der Hand einen Kreis in der Luft. »Heißt, dass Umgebung von See in alter Zeit Heimat von Mig-shár. Jetzt wieder hier.«
»So, heißt es das.« Lemont entblößte das makellose Gebiss zu einem wölfischen Grinsen. »Und warum meutern die Treiber?«
»Meutern nicht, Sahib«, versicherte der Führer, »sein nur besorgt wegen Mig-shár. Denn heißt weiter, dass Ende von bod gekommen, wenn Mig-shár zurückkehrt.«
Lemont hatte sich nie die Mühe gemacht, die Sprache der Menschen zu erlernen, die diesen ebenso einsamen wie unzugänglichen Flecken Erde bewohnten. Dennoch wusste er, dass bod das Wort war, mit dem die Tibeter ihr Land zu bezeichnen pflegten. Angesichts der Ängste, die nicht nur die Treiber, sondern auch den armen Gumpo zu plagen schienen, dessen Stimme zuletzt arg gezittert hatte, konnte er jedoch nur überlegen lächeln.
»Ich fürchte keinen Mig-shár«, gab er bekannt. »Sag das den Treibern.«
»Zu Befehl, Sahib. Gumpo fürchtet nur, wird Männer nicht trösten. Haben Mig-shár gesehen.«
»Was?«
»Einer der Treiber, Nygal, behaupten, Mig-shár gesehen«, bestätigte Gumpo leise, wobei nicht zu erkennen war, ob er sich mehr vor der einäugigen Sagengestalt fürchtete oder vor seinem gestrengen Auftraggeber.
»Wann und wo ist das gewesen?«
»Gestern bereits und heute wieder. Sorgen für Unruhe unter den Treibern. Und jetzt, da Gebiet des Mig-shár betreten ...«
»D'accord, ich verstehe«, erklärte Lemont
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