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Das Licht von Shambala

Das Licht von Shambala

Titel: Das Licht von Shambala Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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herantrug.
    »Frage nicht, mein Kind, sondern sehe mit dem Herzen«, schrie der Alte zurück. »Es ist der Garuda! Der Simurgh! Oder, wie wir ihn nennen, der Vogel Roc!«
    Lemont konnte den fernen Donner hören, der von jenseits der Ausläufer des Gurla-La herüberdrang, und war einmal mehr froh darüber, sich gegen die Passage über den Shipki-Pass entschieden zu haben. Der Monsun würde nicht mehr lange auf sich warten lassen, und dann würden nicht nur die Flüsse anschwellen und zur reißenden Gefahr, sondern auch viele Straßen unpassierbar werden. Um rascher ans Ziel zu gelangen, waren seine Begleiter und er daher über Agra, Delhi und Dehra Dun nach Nepal eingereist. Über Ramu und Chala hatten sie schließlich die Passage nach Tibet über den Saipal Himal gemacht. Bei der Grenzstadt Siar hatten sie die Grenze überschritten und das da-yig vorgezeigt, den von der tibetischen Regierung ausgestellten Passierschein, der ihnen ungehinderten Zutritt sowohl zum Land als auch zu seinen Heiligtümern gewährte.
    Natürlich war das Dokument gefälscht, aber die dmag-mi 33 , die an der Grenze Wache hielten, hatten dies ebenso wenig durchschaut wie Lemonts ehrgeizige Pläne. Nicht einer von ihnen hatte auch nur geahnt, dass sich unter den mehr als achtzig Teilnehmern der Karawane der zukünftige Herrscher nicht nur dieses Landes befand, sondern der ganzen Welt ...
    Die Yaksänften, die Lemont und seinen Verbündeten als Reiseunterkünfte dienten und auf den breiten Rücken der riesigen, fellbesetzten Tiere ruhten, waren primitiv, aber sie erfüllten ihren Zweck. Die Teppiche, Kissen und Wolldecken, mit denen das Innere ausgeschlagen war, sollten Luxus vorspiegeln; in Wahrheit war das Reisen in den schwankenden, würfelförmigen Behältnissen, in die unablässig der Wind fuhr, in etwa so bequem wie der Ritt auf einem betrunkenen Kamel. Lemont verabscheute diese Form der Fortbewegung und nahm sie nur dann in Anspruch, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Auf staubigen Samtkissen auf einem Yak zu sitzen, dessen Ausdünstungen und Exkremente erbärmlichen Gestank verbreiteten, war alles andere als angenehm, aber immer noch besser, als zu Fuß zu gehen, zumal, wenn es galt, riesige Höhenunterschiede zu überwinden.
    Die einheimischen Träger und Treiber, die den Zug begleiteten, hatten in dieser Hinsicht weniger Glück, aber Lemont ging davon aus, dass ihre kurzen, stumpigen Beine auch ungleich besser dazu geeignet waren, Gipfel zu erklimmen, als seine. Zudem taten sie genau das, was die Natur und die Vorsehung ihnen zugedacht hatten - sie verrichteten niedere Dienste und schleppten das Gepäck jener, deren Intellekt dem ihren weit überlegen war. Insofern spiegelte die Karawane in ihrer Zusammensetzung genau jene Welt wider, von der Lemont träumte, seit es ihm gelungen war, das Geheimnis des Codicubus zu entschlüsseln: eine Welt, in der jene die Macht besaßen, denen von Anbeginn der Geschichte die Macht dazu gegeben worden war!
    Selbst für Lemont war es schwierig, sich inmitten der kargen, von schneebedeckten Gipfeln umrahmten Landschaft vorzustellen, dass alles in einer heißen Sommernacht begonnen hatte, vor mehr als dreißig Jahren. In all dieser Zeit hatte Lemont niemals die Hoffnung verloren, hatte er den Glauben daran, dass es ihm eines Tages gelingen würde, das Erbe anzutreten, niemals aufgegeben.
    Entscheidungen waren dazu nötig gewesen, Verzicht und Opfer, und nicht alle waren ihm leichtgefallen. Aber seit er sich auf diese Reise begeben, und, mehr noch, seit er den Saipal Himal überwunden und Siar hinter sich gelassen hatte, hatte er mehr denn je das Gefühl, seiner Bestimmung zu folgen.
    Der Wind, der von Westen über die Hochebene strich, war eisig kalt und selbst im Innern der Sänfte zu spüren. Gelegentlich schlug Lemont den Fellvorhang beiseite, um einen Blick auf primitive Steinhütten zu erheischen oder die schäbigen Zelte von Bergnomaden, vor denen Herden schmutziger Schafe und magerer Ziegen weideten. Warum die Geschichte der Menschheit ausgerechnet hier ihren Anfang genommen hatte, entzog sich Lemonts Verständnis, aber es war eine unbestreitbare Tatsache. Und hier, inmitten dieser Einsamkeit, unbeachtet von den Augen der Welt, würde sie schon in Kürze auch ihre Erfüllung finden.
    Es war am zweiten Tag nach der Überquerung des Passes. Die Stadt Burang und das Kloster Shepeling hatten sie am Mittag hinter sich gelassen, als es unter den Treibern Tumult gab. Entgegen dem sonst eher ruhigen und

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