Das Licht von Shambala
verließen und sich zu den anderen gesellten, stießen laute Schreie aus.
»W-wie ist so etwas möglich?«
»Es ist möglich, Monsieur l'Allemagne«, erwiderte Lemont schlicht. »Ich habe es Ihnen gesagt, oder nicht?«
»D-das haben Sie ...«
Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen.
Reglos standen die Fremden, deren narbige, entstellte Mienen nur ein einziges Auge zur Schau trugen, den Reisenden gegenüber. Dann schlugen sie ihre Mäntel zurück und entblößten die Schwerter, die an ihren Gürteln hingen: klobige, sichelförmige Gebilde, die entsetzliche Wunden zu schlagen vermochten. Auf einen knappen Befehl ihres Anführers hin zückten die Zyklopen die Waffen, und für einen Moment hatte es den Anschein, als sollten sich sämtliche Befürchtungen, die die Träger gehegt hatten, erfüllen.
Doch die Einäugigen machten keine Anstalten zum Angriff; stattdessen nahmen sie ihre Schwerter in beide Hände und hielten sie gesenkten Hauptes vor sich, um sie wie eine Gabe zu präsentieren. In dieser Haltung sanken sie auf die Knie.
»S-Sahib, was ...?«
Gumpos Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er sah, dass die Mig-shár keinem anderen als seinem Auftraggeber huldigten. Lemont ließ ihn los und nahm die Ehrung der Einäugigen mit vor der Brust verschränkten Armen entgegen. Die Genugtuung, die ihn dabei erfüllte, war unbeschreiblich.
Nun hatten sie das Ziel ihrer Reise fast erreicht.
Es war sein Land, auf dem er sich befand.
Seine Bestimmung ...
»Wie ist das möglich?«, wiederholte der Brite, der neben ihm stand.
»Nun«, erwiderte Lemont, »offenbar sind es doch nicht nur irgendwelche Geschichten, die ich Ihnen erzählt habe.«
»Sie meinen, die Arimaspen ... existieren tatsächlich? Bis zum heutigen Tag?«
»In gewisser Weise.« Lemont nickte.
»Unsinn«, zischte der Deutsche. »Es gibt keine Einäugigen! Wie in aller Welt haben Sie es angestellt ...?«
»Vielleicht werde ich Ihnen das irgendwann verraten, mes amis«, entgegnete Lemont ruhig. »Bis dahin sollten Sie sich hüten, jemals wieder an meinen Worten zu zweifeln. Denn wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.«
»Sie ... Sie haben diese Kreaturen künstlich geschaffen?«, erkundigte sich der Italiener zweifelnd. »Warum sollte jemand so etwas Verrücktes tun?«
»Weil, mein Freund«, erklärte Lemont bereitwillig, »in diesem Teil der Welt die Geschichte ein langes Gedächtnis hat. Andere Kulturen, die in die Vorzeit unserer Zivilisation zurückreichten, wie die der Babylonier, der Ägypter oder der Maya, mögen längst verloschen sein und mit ihnen auch ihr geheimes Wissen. Hier jedoch, auf dem Dach der Welt, umgeben von Mauern, die nicht einmal Alexander der Große zu überwinden vermochte, hat sie sich bis in unsere Zeit erhalten, und um sie zu ergründen und sich anzueignen, bedarf es eigener Methoden. Für Sie mag das alles Mummenschanz sein. Für die Bhotia jedoch« - und dabei deutete er auf Gumpo und seine Leute, die sich ihrerseits zu Boden geworfen hatten und inzwischen nicht nur mehr den Einäugigen huldigten, sondern auch deren Herren -, »ist dies ein Teil ihrer Geschichte.«
»Aber ich verstehe immer noch nicht ...«
»Wie lange, Monsieur L'Italie, wird es wohl dauern, bis man bemerkt, dass unser Passierschein gefälscht ist? Wie lange, bis der Kashag von unserer Karawane erfährt und Nachforschungen anstellt? Dies ist verbotenes Land, vergessen Sie das nicht, und sobald man unser Eindringen bemerkt, wird man uns mit aller Härte bekämpfen. In Begleitung der Arimaspen allerdings, die von nun an unser Schutz und unser Geleit sein werden, haben wir nichts zu befürchten. Sie werden uns Türen öffnen, die anderen verwehrt bleiben.«
»I-ich verstehe«, flüsterte der Italiener beeindruckt, und weder ihm noch einem der anderen Europäer fiel eine weitere Erwiderung ein. Der Großmeister der Bruderschaft schien seinen Plan sorgfältig bedacht zu haben, und allmählich war selbst der kritische Deutsche der Ansicht, dass der Titel angemessen war.
Der Hamburger Kaufmann wandte unmerklich den Kopf und warf den Mig-shár einen verstohlenen Blick zu. Er erschrak, als er für einen Moment in eines der Zyklopenaugen blickte.
Denn es lag kein Leben darin.
Nur Leere - und Verzweiflung.
5.
All die Geschichten, die el-Hakim ihr in ihrer Jugend erzählt hatte, die Märchen aus Tausendundeiner Nacht, in denen unerschrockene Helden gegen gefiederte Ungeheuer gekämpft hatten, kamen Sarah Kincaid wieder in
Weitere Kostenlose Bücher