Das Licht von Shambala
und sie in die Tiefe zu schleudern drohten. Ohrenbetäubender Donner erfüllte die Luft, gleißende Blitze fuhren herab und teilten den Himmel in gezackte Linien.
So, dachte Sarah in ihrer Erschöpfung und Verzweiflung, kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, musste das Ende der Welt sein.
Dann wurde es dunkel.
»Ist sie das?«
»Ja, Mahasiddha.«
»Sie ist jünger, als ich dachte.«
»Ich weiß, Mahasiddha. Aber sie ist gesund. Und sie erfüllt alle Voraussetzungen.«
Die alte Frau trat vor und streckte ihre Hand aus, berührte die Stirn des Kindes, das vor ihr in der Wiege lag - und in diesem Moment war es, als würden die hektischen Geräusche und das schrille Geschrei, die die Gänge und Säle des Waisenhauses erfüllten, jäh verstummen. Stille kehrte ein, und nur noch die Greisin und das Kind schienen zu existieren, als umgäbe sie eine schützende Blase, die allen Lärm und alles Unheil fernhielt.
»Eine gute Wahl«, stellte die Greisin schließlich fest.
»Ich danke Euch, Mahasiddha.«
»Und es weiß wirklich niemand, woher das Kind stammt?«
»Nein, Mahasiddha. Es gibt Gerüchte, ihr Vater wäre ein britischer Offizier, der unlängst im Kampf gefallen sei. Die Mutter ist bei der Geburt gestorben.«
»Also ist es ein Kind ohne Heimat«, folgerte die Greisin. »Ein Spross verschiedener Kulturen ...«
»Ja, Mahasiddha. Genau wie Ihr verlangtet.«
»Sehr gut.« Die Greisin nickte. Dann streckte sie abermals die Hand nach der Stirn des Kindes aus. »Also ist es beschlossen«, flüsterte sie. »Du sollst meine Erbin sein.«
Es war der 19. Januar des Jahres 1858.
3. B UCH
T IBET
1.
Ruhe.
Frieden.
Gelassenheit.
Sarah Kincaid hatte das Gefühl, eins zu sein mit dem Universum und alle menschlichen Empfindungen weit hinter sich gelassen zu haben. Da war keine Angst mehr und kein Entsetzen, keine Trauer und keine Furcht. Selbst ihre vor Kälte und Anstrengung schmerzenden Glieder spürte sie nicht mehr, als hätte sie unendlich lange geruht.
»Sarah?«
Die Stimme war ihr bekannt, und sie schlug die Augen auf.
Vor ihr saß Gardiner Kincaid, und sie war noch nicht einmal überrascht darüber. Schon früher war sie ihrem Ziehvater an der Schwelle zwischen Leben und Tod begegnet, aber niemals hatte sie ihn so deutlich vor sich gesehen wie in diesem Augenblick - wohl weil sie diese Schwelle nun überschritten hatte?
»Was willst du von mir?«
Sie erschrak über sich selbst, als sie sich die Worte sprechen hörte. Hatte der Mann, der sie an Kindes statt angenommen hatte, nicht mehr Achtung verdient?
»Ich weiß nicht, was du meinst«, behauptete Gardiner, der genauso aussah, wie sie ihn in Erinnerung hatte: weißes Haar, energische Gesichtszüge mit Augen, die so stahlblau waren wie ihre eigenen und ihr deshalb stets das Gefühl gegeben hatten, dass auch sie das keltische Erbe in sich trug.
Ein Irrtum.
»Du weißt es nicht? Du hast mich belogen, über all die Jahre! Du hast mich im Glauben gelassen, deine leibliche Tochter zu sein.«
»Dafür gab es einen Grund«, antwortete Gardiner.
»Warum hast du mir diesen Grund nicht mitgeteilt? Warum musste ich all diese Dinge erst nach deinem Tod erfahren? Ich hätte deinen Rat und deine Hilfe gut brauchen können.«
»Du hattest Rat«, meinte Gardiner überzeugt. »Und du hattest Hilfe.«
»Von wem? Von Fremden?«
»Von Menschen, die dich begleitet haben. Bis ans Ende deiner Reise.«
»Das Ende meiner Reise? Es ist also vorbei?«
»Noch nicht ganz. Du hast vieles auf dich genommen und manches erduldet. Aber noch hast du das letzte Rätsel nicht gelöst, das letzte Geheimnis nicht ergründet.«
»Von welchem Geheimnis sprichst du?«
»Von dem deiner Herkunft«, enthüllte Gardiner bereitwillig. Ein nachsichtiges Lächeln huschte über seine Züge, um sofort wieder zu verschwinden. »Das Rätsel der Dunkelzeit, Sarah. Die Lösung ist nicht mehr fern.«
»Die Dunkelzeit?«, fragte Sarah verwirrt. »Aber - wie kann ich das Rätsel lösen, wenn ich nicht mehr am Leben bin? Wenn meine Zeit auf Erden zu Ende gegangen ist?«
»Davon war nie die Rede, mein Kind.« Gardiner schüttelte den Kopf. »Folge deiner Bestimmung und leugne sie nicht länger, hast du verstanden? Öffne die Augen und erkenne, wer du bist. Jetzt, Sarah! Jetzt ...«
Als wäre sie noch immer das Mädchen, das jede Anweisung seines Vaters widerspruchslos zu befolgen hatte, schlug sie abermals die Augen auf - und diesmal tat sie es nicht im Traum, sondern in
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