Das Licht von Shambala
Abt Schwierigkeiten hatte, den Namen des Schweizers auszusprechen. »Und die anderen?«
»Ein ryga-ser-pa 38 , der das Gastrecht mit Füßen tritt und die Geduld meiner Mitbrüder auf eine harte Probe stellt.«
Sarah war klar, dass nur Abramowitsch gemeint sein konnte. »U-und sonst?«, fragte sie.
»Niemand.«
»Aber es waren noch zwei weitere Männer an Bord, ein alter Mann und ...«
Statt zu antworten, schüttelte der Abt nur den Kopf.
»Ammon«, flüsterte sie. Sie sah den Weisen noch vor sich, wie er im Bug der Gondel kauerte und so ausgelassen lachte, als gäbe es weit und breit keine Bedrohung. Von allen Teilnehmern der Expedition hatte er am meisten auf das Schicksal und die Kraft der Vorsehung vertraut. Sollte ausgerechnet er den Absturz nicht überlebt haben?
»Meine Brüder und ich sind überzeugt davon«, sagte Abt Ston-Pa leise, »dass die Art des Todes das Leben eines Menschen widerspiegelt. Wenn dies so ist, so hat der andere Mann aus ryga-ser 39 im Diesseits viel Schuld auf sich geladen, denn wir fanden seinen Körper zerschmettert am Fuß eines Felsens.«
»Igor.« Sarah nickte. Sie hatte für Abramowitschs brutalen Handlanger nicht genug übrig gehabt, um tiefe Trauer zu empfinden, aber auch ihm hätte sie ein solches Ende nicht gewünscht.
»... der alte Mann hingegen war äußerlich unverletzt, als hätte sein yidam 40 ihn geradewegs zum Boden zurückgetragen. Aber sein Inneres hatte schwere Verletzungen erlitten, sodass auch meine Heilkunst ihn nicht zu retten vermochte.«
»War er noch bei Bewusstsein?«
»Ja.« Abt Ston-Pa nickte. »Lange genug, um mir aufzutragen, dass ich Sie retten und Sie bei Ihrer Unternehmung unterstützen solle.«
»Und dann ... starb er?«, fragte Sarah flüsternd.
»Ja, Lady Kincaid. Ich habe alles versucht, um ihn zu retten, aber die Verletzungen, die er davongetragen hatte ...«
Sarah hörte nicht mehr, was der Mönch weiter sagte.
Tränen brannten in ihren Augen und sorgten dafür, dass ihr Blick verschwamm. Der Verlust, den sie in diesem Augenblick spürte, wog so schwer, dass er alles andere übertraf. So froh sie eben noch darüber gewesen war, am Leben zu sein, so übermächtig war jetzt das Entsetzen darüber, dass el-Hakim es nicht geschafft hatte.
Zwar hatte der Weise schon vor ihrer Abreise davon gesprochen, dass diese Reise seine letzte sein und ihn ans Ende seines Lebens führen werde, aber sie hatte ihm nicht glauben wollen und alles darangesetzt, ihn zu beschützen. Nun war es dennoch geschehen, und dasselbe Gefühl der Trauer erfüllte Sarah wie damals bei Gardiner Kincaid.
Verzweiflung senkte sich zentnerschwer auf sie und drückte sie wieder hinab in den dunklen Pfuhl der Ohnmacht. So, als sträubte sich ihr Bewusstsein dagegen, die schreckliche Wahrheit anzuerkennen, wurde es erneut finster um Sarah, und schon im nächsten Augenblick war sie wieder von Stille umgeben.
U NBEKANNTER O RT
Z UR SELBEN Z EIT
Lautlos setzte er einen Fuß vor den anderen, während er auf nackten Füßen den Korridor hinabschlich. Dabei zitterte er am ganzen Körper, nicht nur der Kälte wegen, vor der seine dünne Kleidung ihm kaum Schutz bot, sondern auch, weil er sich fürchtete.
Vor dem, was er war.
Vor dem, was sie war ...
Sie hatten sich einander entfremdet, daran bestand kein Zweifel. Von dem Augenblick an, da sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte, war etwas zwischen ihnen gewesen; etwas, das ihm sagte, dass ihre Zuneigung zu ihm nicht mehr dieselbe war wie zuvor.
Anfangs hatte er es zu ignorieren versucht, hatte er sich eingeredet, dass es die Liebe zu ihrem ungeborenen Kind wäre, die sie so handeln ließ, und dass er sich eben damit abfinden müsse, ihre Zuneigung mit jemandem zu teilen.
Aber das allein war es nicht.
Je weiter sich die Schwangerschaft entwickelte, desto fremder wurden sie einander, ja, desto gleichgültiger schien er ihr zu werden. In den ersten Monaten, nachdem er aus dem Fieber erwacht war, hatte sie buchstäblich jede Minute mit ihm verbracht, hatte ihn gepflegt und ihm geholfen, sein verlorenes Gedächtnis zurückzugewinnen. Und sie hatte ihren vollendeten Körper beinahe täglich benutzt, um ihn von seinen Ängsten und Befürchtungen abzulenken und sein Bewusstsein, wie sie es nannte, mit neuen, angenehmen Erinnerungen zu füllen.
Seit ihrer Schwangerschaft jedoch hatte sich dies grundlegend geändert. Nicht nur, dass sie jede Form von körperlicher Zärtlichkeit ablehnte, was er noch hätte
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