Das Licht von Shambala
der Abt, »wurde Tibet in alter Zeit von Königen regiert, die dem bon frönten, dem Glauben an Schamanismus und den der Natur innewohnenden Kräften. Diese Könige begründeten das Reich Shang Shung, dessen Mittelpunkt der Kailash bildete und dessen Wappentier der Garuda gewesen ist. Wie es in unseren Quellen heißt, soll Shang Shung vor vielen Tausend Jahren von Dämonen bedroht worden sein. Als die Not am größten war, stieg Shenrab Miwo, ein heiliger und gelehrter Mann, unter heftigem Donner und Getöse an einer Leiter aus Licht auf den Kailash herab, um den Menschen im Kampf gegen das Böse beizustehen.«
»An einer Leiter aus Licht?« Sarah horchte auf. Erneut dachte sie an das, was Ammon ihr in seinem Haus in Konstantinopel berichtet hatte: dass die Götter einst an den Strahlen der Sonne auf den Berg Meru herabgekommen wären. Eine weitere Übereinstimmung ...
»Dies ist nur eine von vielen Sagen, die sich um den Kailash ranken«, sagte Ston-Pa. »Ich möchte Ihnen noch eine weitere erzählen: Zwischen den frühen Buddhisten und den bon-po soll es vor langer Zeit zum Streit darüber gekommen sein, welcher Religion der Berg der Götter denn nun gehöre. Ein ebenso weiser wie mächtiger Yogi mit Namen Milarepa trat zum Disput gegen einen nicht weniger mächtigen Meister des bon an, und als sie sich nicht einigen konnten, wurde beschlossen, dass ein magischer Wettstreit entscheiden solle. Wer von beiden es schaffen würde, den Gipfel des Kailash als Erster zu erreichen, dessen Religion sollte der Berg auf immer gehören.«
»Und?«, fragte Hingis. Die Art und Weise, wie sich Historie und Mythos in Tibet vermischten, mochte ihm nicht behagen. Sein Interesse war dennoch geweckt.
»Milarepa entschied den Wettkampf für sich, indem er nach dem ersten Sonnenstrahl griff, der am Morgen über den Grat des Berges fiel, und daran im Bruchteil eines Augenblicks auf den Gipfel flog.«
»Ach.« Hingis verzog das Gesicht.
»Von einem anderen Lehrer unseres Glaubens hingegen, dem Guru Padmasambhava, wird berichtet, er sei im Besitz zahlreicher Schätze gewesen, die er vom Kailash herabgetragen und versteckt hätte.«
»Schätze?«, fragte Sarah.
»Im übertragenen Sinn. Gemeint ist geheimes Wissen, das Padmasambhava gehütet hat und das sich den Menschen erst dann offenbaren wird, wenn die Zeit dafür reif ist.«
»So wie das Buch von Thot«, ergänzte Ufuk, was auch Sarah in diesem Augenblick dachte, »und wie alle anderen Geheimnisse, die die Ersten hinterlassen haben.«
»Darauf will ich hinaus, geschätzter Freund«, stimmte Abt Ston-Pa zu. »All diese Dinge, von denen wir durch Ihre Ankunft erfahren haben - die Existenz der Ersten, die Auserwählung ihrer Diener und ihre Zeichnung mit dem Einen Auge, das Ende des Goldenen Zeitalters und die verborgenen Geheimnisse - haben ihre Entsprechung in den alten Schriften, weshalb ich keinen Zweifel an ihrer Wahrheit hege.«
»Darin liegt eine gewisse Ironie«, meinte Hingis. »Aus Sicht der Wissenschaft stellt es sich genau umgekehrt dar: Hier werden Überlieferungen stets auf ihren historischen Gehalt hin überprüft.«
»Wahrheit bleibt Wahrheit, Doktor, egal, ob sie mit dem Verstand oder mit dem Herzen begriffen wird«, erwiderte der Abt. »Und die Wahrheit über den Berg Meru und das letzte Geheimnis, das dort ruht, führt uns schließlich zu jener letzten, dramatischen Erkenntnis, die alles verändern wird.«
»Wovon sprecht Ihr?«, wollte Sarah wissen, der der unheilvolle Unterton in der Stimme des Abts nicht entgangen war.
»Sie fragen sich, warum die Bruderschaft das letzte Geheimnis noch nicht entschlüsselt hat. Ich werde es Ihnen sagen: Das dritte Geheimnis ist nicht an einer bestimmten Stelle zu suchen, sondern außerhalb von Raum und Zeit, und es gibt nur einen Ort der Welt, auf den diese Beschreibung zutrifft.«
»Welchen?«, wollte Sarah wissen.
Ston-Pa beugte sich zu ihr vor.
»Shambala«, flüsterte er.
F ESTUNG R EDSCHET -P A
Z UR SELBEN Z EIT
Der Wein, der in das Kristall plätscherte, hatte die Farbe von Bernstein. Geheimnisvoll reflektierte er das Kerzenlicht, das den Speisesaal beleuchtete.
»Noch einmal, meine Liebe?«
»Mit Vergnügen«, sagte Ludmilla von Czerny, worauf sich der Madeira auch in ihr Glas ergoss.
»Auf Sie«, sagte Lemont und prostete ihr vom anderen Ende der Tafel aus zu. »Weil Ihnen gelungen ist, was niemandem vor Ihnen gelang.«
»Natürlich«, entgegnete Czerny lächelnd. »Haben Sie etwa an mir
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