Das Licht von Shambala
unverletzt überstanden hatte. Sofort nach ihrer Bruchlandung hatte er sich auf den Weg gemacht, um Hilfe zu holen. Mit Erfolg.
»Mig-shár, der die Sprache der ryga-gar-pa 43 spricht«, fuhr der Abt fort, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, auf eine Gestalt aus alten Sagen zu treffen, »berichtete uns von einigen tschiling-pa 44 , die verletzt wären und unsere Hilfe bräuchten, und so nahmen wir uns ihrer an. Zu diesem Zeitpunkt ahnten wir bereits, dass sich damit alles verändern würde.«
»Alles verändern?« Sarah hob die Brauen. »Was heißt das?«
»In jenen alten Überlieferungen, die von den einäugigen Hütern des Berges berichten, heißt es auch, dass die Rückkehr Mig-shárs einst das Ende der Welt einleiten wird.«
Sarah fühlte jähe Beklemmung. Zum einen, weil sie zu ahnen begann, warum sowohl die Menschen in Rampur als auch die tibetischen Mönche dem Zyklopen mit jener Mischung aus Freundlichkeit und Vorsicht begegneten; zum anderen, weil sich die Worte Ston-Pas mit denen Ammons deckten, der in Stambul ebenfalls vor einer bevorstehenden Katastrophe gewarnt hatte, vor einem Geheimnis, das jede Waffe an Gefährlichkeit bei Weitem übertreffen würde.
»Auch wir haben etwas Derartiges gefühlt, ehrwürdiger Abt«, bestätigte Ufuk, der sich immer häufiger des Pluralis bediente, wenn er von sich sprach. »Wir hatten Visionen, Träume von einer dunklen Bedrohung, die über der Menschheit liegt.«
Ston-Pa nickte. »Die Gerüchte haben sich als wahr erwiesen.«
»Was für Gerüchte?«, wollte Sarah wissen.
»Vor einigen Wochen«, berichtete der Abt, »kamen Pilger nach Tirthapuri, um in den heißen Quellen zu baden. Sie waren auf dem Rückweg vom Kailash, den sie umrunden wollten, um Vergebung für ihre Sünden zu erlangen, doch sie brachten die khora 45 nicht zu Ende, denn unterwegs begegneten sie etwas, das sie in Todesangst versetzte und umkehren ließ.«
»Nämlich?«, wollte Hingis wissen.
»Einäugigen Kriegern, Doktor. Zyklopen, wie Sie sie wohl nennen würden, obwohl die Bezeichnung nicht korrekt ist.«
Zum ersten Mal ließ Hieronymos eine Reaktion erkennen. Er setzte die Holzschale, aus der er gerade hatte trinken wollen, ab und schaute den Abt fragend an. »Wie viele?«
»Du-ma 46 «, entgegnete Ston-Pa mit einer unbestimmten Handbewegung. »Anfangs gaben wir nichts auf die Gerüchte, denn Pilger, insbesondere solche, die die khora nicht vollenden, pflegen häufig Dämonen im Gepäck zu haben, deren sie sich nicht erwehren können. Als wir jedoch auf euch trafen, wurde uns klar, dass sie nicht nur einer Täuschung erlegen waren und dass wohl auch die anderen Dinge zutreffen, von denen wir gehört haben.«
»Was für Dinge?«
»Unweit des Kailash, in einem Nebental, das wir kag redschet-pa nennen - ›den Ort, der vergisst‹ -, befindet sich eine Festung, deren Ursprünge noch in die Zeit der Shang Shung zurückreichen, lange bevor die wahre Lehre nach Tibet kam. Im Lauf der Jahrhunderte wurde sie immer weiter ausgebaut und von verschiedenen Herren benutzt, ehe sie den Königen von Tsaparang als Garnison für ihre Soldaten diente. Als das Reich von Guge jedoch im Krieg gegen seinen Nachbarn Ladakh unterging, da wurde die Festung aufgelassen und stand zwei Jahrhunderte lang leer - bis sie schließlich von Neuem besiedelt wurde. Von tschiling-pa - von Fremden.«
Sarah tauschte vielsagende Blicke mit Hingis und Ufuk. »Was sind das für Leute?«, erkundigte sie sich dann.
»Das wissen wir nicht«, gestand der Abt, »aber was wir von ihnen hörten, gab uns wenig Anlass zur Freude. Wie es hieß, sei das Böse, das einst den Untergang von Guge herbeiführte und das Land des Sutlej vertrocknen ließ, wieder nach bod zurückgekehrt, und wie in den alten Überlieferungen bediente es sich abtrünniger Mig-shár, um seine finsteren Ziele zu verfolgen. Auch diesen Gerüchten schenkten wir zunächst keine Beachtung, aber nach allem, was wir nun erfahren haben, glauben wir, dass Ihre Feinde und unsere Feinde dieselben sind, Lady Kincaid.«
»Die Bruderschaft des Einen Auges«, sprach Sarah aus, was sie insgeheim bereits vermutet hatte.
»Meine Brüder und ich haben uns oft gefragt, ob all dies zusammenhängt«, stimmte Ston-Pa zu. »In endlosen Runden haben wir darüber diskutiert, ohne zu einer Antwort zu gelangen. Ammons Wissen jedoch hat uns geholfen, die fehlenden Teile des Rätsels zu ergänzen, wie ein Mandala, dessen wahres Wesen sich erst nach und nach und nur dem
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