Das Licht von Shambala
Mönchen des Klosters als Ort der Versammlung und der Kontemplation diente, hatte sich geleert, aber noch immer schien die Luft zu vibrieren von den heiligen Texten, die die Mönche vorgetragen hatten, und das möglichst rasch und mit lauter Stimme, damit die Worte, wie Abt Ston-Pa erklärte, gute Schwingungen erzeugten und zum Wohle aller Wesen gen Himmel stiegen. Auch die Gäste hatten dem Vortrag beiwohnen dürfen, wobei nur Sarah, Hingis, Ufuk und Hieronymos der Einladung gefolgt waren - Abramowitsch zog es vor, in seiner Kammer zu bleiben und, so nahm Sarah an, finsteren Gedanken nachzuhängen.
Lediglich Ston-Pa und seine beiden Diener - junge Mönche mit kahl geschorenen Häuptern, deren türkisfarbene Ohrringe sie als Mitglieder tibetischer Adelsfamilien auswiesen - waren in der Halle geblieben. Der Abt wartete, bis die beiden kleine Holzschälchen aus Ahorn gebracht und mit Buttertee gefüllt worden waren. Dazu wurden Yakbutter und geröstete Gerste gereicht, die man nach Belieben in den Tee gab. Das Ergebnis war ein nahrhafter Brei namens tsampa, der so etwas wie das Nationalgericht der Tibeter darstellte.
Heißer Dampf stieg von den Schälchen zur hölzernen Decke auf, die vor langer Zeit mit einem riesigen Mandala bemalt worden war, einem jener komplizierten Muster, anhand derer Buddhisten wie Hindus das Wesen des Kosmos zu erklären versuchten. Der Ruß von Abertausenden von Butterlampen, die im Lauf der Jahrhunderte in der Halle abgebrannt worden waren, hatte es jedoch fast zur Unkenntlichkeit geschwärzt. Thangka, wie die schmalen Stoffgemälde hießen, die zwischen den mit bunten Stoffstreifen umwickelten Säulen hingen, gaben in umay 41 gehaltene Mantren wieder, Glaubensformeln, die zu den unverrückbaren Grundsätzen der buddhistischen Religion gehörten. In Ermangelung von Kissen oder Sitzmöbeln hockte man auf Teppichen, die auf dem harten Steinboden ausgelegt waren. Der Schein der untergehenden Sonne fiel in goldenen Schäften durch ein hoch angebrachtes Fenster und spendete unwirkliches Licht.
Obgleich die Eindrücke fremd waren, der Ruß und das Yakfett streng rochen und es so kalt war, dass sowohl die Mönche als auch ihre Gäste dicke Mäntel aus gelb gefärbter, handgewobener Wolle tragen mussten, um nicht elend zu frieren, strahlte der Ort eine Geborgenheit aus, wie Sarah sie nur als Kind in der alten Sternwarte auf dem Djebel Mokattam oder in der Bibliothek von Kincaid Manor empfunden hatte. Beide Orte waren verloren, hin fortgerissen vom Strudel der Zeit - dieser jedoch existierte, und Sarah hatte das Gefühl, hier nicht weniger zu Hause zu sein als im fernen Yorkshire.
»Es ist gut, dass Sie alle hier sind«, begann Abt Ston-Pa die Unterredung in seinem makellosen, fast akzentfreien Englisch.
»Das wäre nicht der Fall, wenn Ihr uns nicht gerettet und in Eure Obhut aufgenommen hättet, ehrwürdiger Abt«, entgegnete Sarah und senkte demütig das Haupt. »Dafür danken wir Euch von ganzem Herzen.«
»Zu helfen ist unsere Pflicht«, wiederholte der Vorsteher des Klosters sein Credo, »dennoch war es nicht unsere Hilfsbereitschaft, die uns an jenem Tag hinausgeführt hat, sondern die Vorsehung. Einer unserer Mitbrüder hatte einen Traum, der von eurer Ankunft berichtete.«
»Tatsächlich?«, fragte Hingis wenig beeindruckt - schließlich konnte jemand nicht einfach geträumt haben, was sich rund einhundert Meilen entfernt über dem Shipki-La zugetragen hatte ...
»Er sah den Garuda am Himmel«, bestätigte Ston-Pa zu aller Verblüffung. »Und er sah ein Schiff aus den Wolken stürzen, genau wie in den alten Überlieferungen.«
»In alten Überlieferungen?« Sarah verstand nicht, aber der Abt schien auch nicht gewillt, näher darauf einzugehen.
»Ganz recht«, bestätigte er nur. »Wir zogen also aus, um die Stelle zu suchen, die der tschamkan 42 uns beschrieb, und trafen dort auf Mig-shár, den wir aus denselben alten Mythen kennen wie den Garuda, gegen den seinesgleichen einst kämpfte.«
Sarah nickte. Auch die Tibeter schienen also jene Sage zu kennen, derzufolge die Arimaspen einst Krieg gegen die Greife führten. Sie schaute zu Hieronymos hinüber, der in Lotushaltung auf einem der Teppiche hockte und ab und zu aus seiner Ahornschale trank. Selbst im Sitzen war er noch größer als die meisten Mönche des Ordens im Stehen, und sein einzelnes Auge war klar und wachsam. Der Zyklop war der Einzige, der den mörderischen Flug durch den Sturm bei vollem Bewusstsein miterlebt und
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