Das Licht von Shambala
leise. »Sehen Sie sich vor, Gräfin. Kincaid haben Sie bezwungen, aber Sie sollten nicht den Fehler begehen, sich mit mir anzulegen.«
»Aber Großmeister«, wandte sie erschrocken ein, »ich habe in keiner Weise versucht ...«
»Halten Sie mich wirklich für so dumm?« Lemont deutete auf Kamal. »Wenn er stirbt, ist uns jede Möglichkeit genommen, eine neue Erbin zu zeugen - nur für den Fall, dass Ihnen etwas zustoßen oder es sich entgegen Ihren Beteuerungen doch um einen Jungen handeln sollte. Das würde Sie unentbehrlich machen, nicht wahr, Gräfin? In jeder Hinsicht einzigartig.«
Die Czerny errötete. »Aber nein, Großmeister«, beeilte sie sich zu versichern, »das war nicht meine Absicht. Ich wollte nur ...«
»Sie bekleiden einen hohen Rang innerhalb unserer Organisation, Gräfin. Vermutlich ist er höher, als es Ihnen aufgrund Ihres Geschlechts und Ihres nur erheirateten Titels zukommt. Also bescheiden Sie sich damit und denken Sie nicht einmal daran, auch mich manipulieren zu wollen. Es würde Ihnen nicht bekommen.«
Einen Augenblick schien Ludmilla von Czerny widersprechen und erneut ihre Unschuld beteuern zu wollen, aber sie sah wohl ein, dass es keinen Sinn hatte. Stattdessen senkte sie ehrerbietig den Blick. »Ja, Großmeister«, sagte sie nur. »Ich verstehe.«
»Bringt ihn in den Kerker«, wies Lemont die beiden Arimaspen an, die sich daraufhin wortlos abwenden und den Befehl ausführen wollten, aber Kamal widersetzte sich ihnen mit aller Kraft.
»Wer sind Sie?«, fragte er den Mann mit dem französischen Akzent, der sich als »Großmeister« ansprechen ließ und von seinen Leuten ganz offenbar gefürchtet wurde. »Ich habe das Gefühl, Ihnen schon einmal begegnet zu sein.«
»Unwahrscheinlich, mon ami«, erwiderte Lemont mit hintergründigem Lächeln. »Sie müssen mich wohl mit jemandem verwechseln ...«
4.
R EISEBERICHT S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
Shambala ...
Das Wort schwebte im Raum wie der Duft einer Jasminblüte - lockend und exotisch, aber auch von einer bitteren Strenge.
Zuletzt hatte ich als Kind von jenem sagenumwobenen Ort gehört, ohne mir je Gedanken darüber zu machen, worum genau es sich dabei handelte. Als Abt Ston-Pa den Namen jedoch aussprach, da hatte er plötzlich einen vertrauten, fast tröstenden Klang, und ich war begierig, mehr darüber zu erfahren.
K LOSTER T IRTHAPURI
A BEND DES 14. J UNI 1885
»Shambala?«, echote Friedrich Hingis, der den Namen noch nie zuvor gehört zu haben schien.
»Als ich noch ein junger Novize war«, berichtete Abt Ston-Pa lächelnd, »kam ein britischer Missionar ins Tal des Sutlej. Seine Bemühungen, mich den christlichen Glauben zu lehren, waren weniger erfolgreich als die Lektionen, die er mir in seiner Muttersprache angedeihen ließ, weswegen ich sie leidlich beherrsche. Aber ich glaube mich zu erinnern, dass Ihre Religion etwas kennt, dass Sie als ›Paradies‹ bezeichnen.«
»Das ist richtig«, stimmte Sarah zu.
»Dann betrachten Sie Shambala als das asiatische Pendant dazu: ein Ort der Vollkommenheit und der göttlichen Geheimnisse, an dem sich die Welt in absolutem Gleichgewicht befindet.«
»Und Ihr glaubt, Shambala befände sich auf dem Berg Meru?«, fragte Sarah, die fühlen konnte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte.
»Das wäre zu einfach«, schränkte der Abt ein. »Verstand und Seele sind nicht dasselbe, nur weil sie im selben Körper wohnen. Der Berg Meru, repräsentiert in der Gestalt des Kailash, stellt den Mittelpunkt des Kosmos dar; von hier entspringen alles Wissen und alle Energie, hier nahm die Zivilisation ihren Anfang. Shambala jedoch ist die Quelle, aus der sich dieses Wissen nährt und die ihm Sinn und Richtung gibt, denn im Licht von Shambala sind, wie es heißt, alle Geheimnisse der Welt verborgen.«
»Alle Geheimnisse der Welt«, wiederholte Sarah flüsternd. Sie schickte Hieronymos einen fragenden Blick zu, aber der Zyklop reagierte nicht darauf, sodass nicht festzustellen war, ob er die Meinung des Abts teilte oder nicht. »Und die Ersten?«, fragte sie. »Wie passen sie in dieses Bild?«
»Die Überlieferung weiß von weisen Männern und Frauen zu berichten, die Shambala fanden und dort erleuchtet wurden. Später kehrten sie unter die Menschen zurück und gaben weiter, was sie gesehen und gelernt hatten, unter anderem auch Künste wie jene des pho-wa und des trong-jug. Womöglich sind sie mit den Ersten gemeint.«
»Wer weiß?«, entgegnete Sarah höflich, obwohl die
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