Das Licht von Shambala
Er nahm das Gewehr in den Anschlag, aber die Distanz war noch zu groß, als dass er einen sicheren Treffer hätte anbringen können. Er biss die Zähne zusammen und wollte noch schneller laufen, aber es ging nicht. Ohnehin war das Marschieren auf einer Höhe von zwölftausend Fuß infolge der dünnen Luft eine Tortur. Ein Sturmlauf wie dieser jedoch überforderte Gardiners Kräfte. Keuchend verlangsamte er seinen Schritt, während die Angreifer näher kamen wie eine Meute hungriger Wölfe. Sie waren so auf ihre Opfer fixiert, dass sie Gardiner und Nagapo noch nicht bemerkt hatten. Obwohl die Seite des Briten schmerzte und er das Gefühl hatte, seine Stiefel wären mit Blei beschlagen, kämpfte er sich weiter durch den Schnee. Sie mussten den Hünen und das Kind vor den Banditen erreichen, sonst waren die beiden verloren!
Der Nebel lichtete sich, noch mehr Einzelheiten traten hervor - und fast im selben Moment, in dem Gardiner stehen blieb und die Winchester in den Anschlag riss, erblickten ihn auch die Banditen. Sie schrien laut und riefen einander heisere Befehle zu, dann krachte auch schon Gardiners Schuss, einer der Angreifer krümmte sich und verschwand in einer Wolke aufgeworfenen Schnees.
Die kalte, dünne Luft in seine Lungen saugend, eilte Gardiner weiter, während er zu seiner Rechten eine Bogensehne schnellen hörte. Nagapos Pfeil schoss hinaus und fand ebenfalls sein Ziel - einen weiteren Banditen, der von den Beinen kippte und schreiend liegen blieb.
Unterdessen hatten die anderen Kerle - Gardiner zählte fünf - den Hünen und das Mädchen erreicht. Obschon angeschossen, sprang der riesenhafte Kämpfer auf die Beine und ließ sein Schwert kreisen, während er das Kind gleichzeitig schützend an sich presste. Die Sichelklinge fuhr herab und hielt blutige Ernte. Der Unterarm eines der Banditen wurde durchtrennt, schreiend roter Lebenssaft schoss aus dem Stumpf und besudelte den Schnee.
Gardiner und Nagapo waren fast heran. Aus der Hüfte schoss der Archäologe ein zweites Mal und streckte einen weiteren Angreifer nieder, und auch der gefiederte Tod, den der yak-pa von der Sehne entließ, suchte sich ein Opfer. Sich an die Brust greifend, wo der Pfeil steckte, brach der Bandit zusammen, sodass nur noch zwei Gegner verblieben. Der eine nahm ein hässliches Ende unter der Sichelklinge, die der Hüne einmal mehr mit tödlicher Präzision führte. Der andere hatte sein ral-gri gezückt und drang damit seinerseits auf den Hünen ein.
Das Kind stieß einen gellenden Schrei aus, der das Heulen des Windes und das Geschrei der Kontrahenten übertönte und an Gardiners Herz rührte. Er wollte schießen, aber er konnte es nicht, ohne das Kind oder seinen Beschützer zu gefährden. Von der Kraft getrieben, die ihm die Verzweiflung gab, eilte er weiter, keuchend und wankend, um in den Kampf einzugreifen - doch in diesem Moment zuckte die Sichelklinge des Hünen vor und durchbohrte den Körper des Räubers, als würde sie dort auf keinerlei Widerstand treffen.
Der Angreifer erstarrte wie vom Blitz getroffen und ließ seine Waffe fallen. Einen Augenblick stand er so, die schmalen Augen weit aufgerissen, dann zog der Hüne seine Klinge zurück, worauf der Bandit zusammenbrach. Noch einen Augenblick hielt sich der siegreiche Kämpfer aufrecht, dann ging er in die Knie. Weinend beugte sich das Kind über ihn, und im nächsten Moment war Gardiner bei ihnen.
Das Erste, was er feststellte, war, dass das Kind ein Mädchen war. Unter der Kapuze, deren dunkelroter Wollfilz von Schneeflocken übersät war, lugte ein fein geschnittenes Gesicht hervor, das von Sommersprossen übersät war. Tränen rannen aus den tiefblauen Augen, die kein asiatisches Erbe erkennen ließen, und unwillkürlich fragte sich Gardiner, was ein weißes Mädchen in diesem entlegenen Teil der Welt zu suchen haben mochte, noch dazu unter solch dramatischen Umständen. Geradezu schockiert jedoch war er, als er einen Blick unter die Kapuze des Hünen erheischte - denn der Mann hatte nur ein Auge! Er war nicht einäugig in dem Sinne, dass er das andere verloren hatte, sondern schien von jeher nur über dieses eine Sehorgan zu verfügen, das inmitten seiner hohen, nach vorn gewölbten Stirn prangte. Gardiner konnte nicht anders, als auf die Knie zu sinken, wobei er nicht wusste, ob es die dünne Luft oder die Ehrfurcht war, die ihn niederzwang.
»Arimaspoi«, flüsterte er, »also ist es wahr ...«
Nach Jahren der Suche, die ihn um den halben Erdball
Weitere Kostenlose Bücher