Das Licht von Shambala
und die durchnässten Stiefel.
»A-aber das geht nicht«, beeilte sich Gardiner zu erklären. »Dieses Kind braucht Vater und Mutter.«
»Seien Sie ihr beides«, trug der Einäugige ihm kurzerhand auf, ein Widerspruch schien nicht möglich.
Unbeholfen streckte Gardiner, der niemals Kinder gehabt und sie im Grunde auch nicht gewollt hatte, um sich ganz seiner Arbeit und den Forschungen widmen zu können, die Hand aus und strich sanft über Sarahs Kapuze. Sie hob den Blick und schaute zu ihm auf, und in diesem Moment empfand er etwas, das er noch vor wenigen Augenblicken nicht für möglich gehalten hätte.
Liebe.
Aufopfernde, bedingungslose Liebe.
»Hier«, ächzte Polyphemos und streckte ihm etwas entgegen, das er unter seinem Mantel hervorgeholt hatte. Es war eine kleine gläserne Phiole, mit Wachs versiegelt.
»Was ist das?«
»Geben Sie es ihr zu trinken ... Es wird sie vergessen lassen, was gewesen ist ... wird sie schützen ... unter den Menschen leben ... bis die Zeit reif ... aber müssen vorsehen ...«
Polyphemos schnappte nach Luft, die Miene vor Schmerz verzerrt. Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber in diesem Augenblick stieß Nagapo einen lauten Warnschrei aus.
»Sie kommen!«
Gardiner fuhr hoch. Tatsächlich waren im Norden, jenseits der Schnee- und Nebelschleier, weitere Gestalten zu erkennen, die auf dakyar, den tibetischen Schneeschuhen, den Hang herabkamen und sich rasch näherten. Auch sie schienen mit Gewehren bewaffnet zu sein.
»Gehen Sie«, drängte Polyphemos, »ich werde sie aufhalten!«
»Aber Sie sind verwundet ...«
»Gehen Sie!«
»Ich will aber nicht umkehren«, knurrte der Archäologe. »Ich habe diesen weiten Weg nicht auf mich genommen, um ...«
»Wie ist Ihr Name?«
»K-Kincaid«, antwortete Gardiner stammelnd. »Gardiner Kincaid ...«
»Der Weg nach Tibet ist Ihnen verwehrt, Gardiner Kincaid«, erwiderte der Zyklop, während er sich wieder auf die Beine raffte und zu voller Größe aufrichtete. Offenbar war er noch lange nicht bezwungen. »Das Schicksal hat einen anderen Weg für Sie gewählt. Dieses Kind ist von nun an Ihre Bestimmung!«
»Meine Bestimmung? Aber ich ...!«
»Gehen Sie schon!«
Als Polyphemos seine Anweisung zum dritten Mal wiederholte, nahm seine Stimme einen schneidenden Tonfall an, und der Blick seines einen Auges war so eindringlich, dass Gardiner gehorchen musste. Für einen Moment hatte er sogar das Gefühl, den Zyklopen und seine Handlungsweise zu verstehen, allerdings war dieser Eindruck nur flüchtig und schon einen Lidschlag später wieder verflogen.
»Komm, Kind«, sagte er und wich zurück, wobei er das Mädchen mitzog. Erstaunlicherweise wehrte sie sich nicht. Sie schluchzte und weinte noch immer und rief unentwegt den Namen ihres Beschützers, aber weder protestierte sie noch widersetzte sie sich, als Gardiner nach ihrer kleinen Hand griff und sie wegführte.
Fort von Tibet.
Fort von allem, was ihr vertraut war.
In eine andere Welt ...
»Polyphemos! Polyphemos!«, rief sie und wandte sich noch einmal um - aber sowohl der Zyklop als auch seine Feinde waren schon im Schneetreiben verschwunden.
F ESTUNG R EDSCHET -P A
W ESTTIBET
N ACHT DES 15. J UNI 1885
Nie zuvor hatte Kamal mehr mit dem Schicksal gehadert als in diesem Augenblick, da er im Dunkel seiner Zelle saß, verraten und allein gelassen - und ohne Erinnerung!
Vergeblich hatte er versucht, das Wenige, das er erfahren hatte, in einen Zusammenhang zu bringen. Wie hätte es ihm auch gelingen sollen? Die Frau, an deren Zuneigung er geglaubt hatte, hatte ihm selbst gesagt, dass sein ganzes bisheriges Leben eine Lüge gewesen war, folglich konnte er sich auf nichts davon verlassen.
Weder wusste er, wer sie in Wirklichkeit war noch welche Ziele sie verfolgte. Auch was sie ihm über seine eigene Vergangenheit erzählt hatte, über das Fieber, das ihn angeblich befallen hatte, war vermutlich gelogen gewesen. Im Grunde wusste Kamal ja noch nicht einmal, an welchem Ort er sich befand. Welches Land der Erde brachte Menschen hervor, die nur ein Auge hatten?
Seltsam war, dass ihn der Anblick der Einäugigen nicht halb so erschreckt hatte, wie es eigentlich hätte der Fall sein sollen; es erschien ihm sogar auf eine verquere Art folgerichtig. Auch der geheimnisvolle Franzose, der sich als »Großmeister« titulieren ließ und dessen Arroganz nur noch von seinem Größenwahn übertroffen zu werden schien, war Kamal auf eine quälende Weise vertraut vorgekommen -
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