Das Licht von Shambala
ich es nicht gewollt hätte?«
»Nein«, gab Sarah zu. »Wahrscheinlich nicht.«
»Also sei ganz beruhigt. Ihr seid hier, weil ich es so wollte. Und weil ich denke, dass ich noch eine Aufgabe zu erfüllen habe, ehe ich diese Welt verlasse.«
»Eine Aufgabe?«, fragte Sarah. »Was meint Ihr damit, Meister?«
»Ich wünschte, ich könnte es dir sagen, mein Kind. Alles, was ich weiß, ist, dass sich etwas verändert hat. Eine Verschiebung im Gefüge des Kosmos ist im Gang ...« Er verstummte, und für einige Sekunden schien er sich in seinen Gedanken zu verlieren. Sarah nutzte die Pause, um für Hingis zu übersetzen, aber auch der Schweizer konnte sich keinen Reim auf die Worte des Alten machen.
Ammon el-Hakim hatte schon viele, sehr viele Sommer und Winter kommen und gehen sehen. Wie viele es genau waren, wusste Sarah nicht. Aber war es möglich, dass das Alter allmählich seinen Tribut forderte? Von ihrem letzten Treffen hatte sie den Weisen als ebenso klugen wie scharfsinnigen Denker in Erinnerung. Konnte es sein, dass ...? Sie errötete innerlich und verbot sich, den Gedanken weiter zu verfolgen. Aber es war schon zu spät. Der alte Ammon, der sie in mancher Hinsicht besser zu kennen schien als sie sich selbst, hatte sie einmal mehr durchschaut.
»Du zweifelst an meinem Verstand«, stellte er fest. Kein Vorwurf lag in seiner Stimme, es war eine einfache Feststellung.
»Nein, Meister«, beteuerte Sarah schnell, »ich ...«
»Auch ich habe gezweifelt«, versicherte der Alte zu ihrer Verblüffung. »Wieder und wieder habe ich mich gefragt, ob jenes Auge, dessen Blick mich bis in den Schlaf verfolgte, nicht viel eher aus jenem Abgrund starrte, den wir selbst in uns tragen und in den wir all das werfen, was uns im Lauf unseres Lebens an Dunkelheit begegnet. Du kannst mir glauben, mein Kind, dass es viel Dunkelheit in meinem Leben gegeben hat, und nicht erst, seit ich mein Augenlicht verlor. Aber nicht jene Schwärze ist der Ursprung der Furcht, die mich quält, sondern die lange Nacht, die am Horizont der Zeit heraufzieht und die kein morgen kennt. Ihre Schatten sind bereits auf die Welt gefallen, aber das ist erst der Anfang.«
»Erst der Anfang?« Unruhe ergriff von Sarah Besitz. »Was genau meint Ihr damit, Meister?«
»Auch das kann ich dir nicht sagen, mein Kind. Aber ich fühle, dass all jene Dinge, von denen du mir berichtet hast - das Feuer des Re, das Wasser des Lebens - lediglich die Vorboten von etwas gewesen sind, das noch kommen wird. Etwas Großes, Bedeutendes - und sehr Gefährliches«, fügte Ammon hinzu, dessen blicklose Augen einen entrückten Ausdruck angenommen hatten.
Sarah merkte, wie sich ihr Magen verkrampfte, und sie spürte wieder jene dumpfe Panik, die ihr ständiger Begleiter war, seit sie Griechenland verlassen hatte. Bislang hatte sie geglaubt, dass ihre Sorge um Kamal dieser Angst zugrunde läge. Aber in diesem Moment erkannte sie, dass sie dasselbe fühlte wie Ammon.
Etwas war im Begriff, sich zu verändern.
Etwas näherte sich.
Etwas Dunkles.
Böses ...
»Es ist die Vergangenheit«, flüsterte der Alte mit einer Stimme, die sie schaudern ließ. Die Flammen der Öllampen spiegelten sich in seinen Augen. »Sie erhebt sich aus den Tiefen der Zeit, um die Welt zu verderben. Ein Geheimnis, das der Menschheit niemals offenbart werden darf ...«
»Wie das Buch von Thot?«, fragte Sarah zweifelnd. »Auch damals hieß es, die Menschen wären noch nicht reif für das Feuer des Re - dabei setzt die moderne Elektrizität Kräfte frei, die durchaus vergleichbar sind.«
»Und?«, fragte der Weise forschend. »Ist die Menschheit reif dafür?«
»Wohl nicht«, kam Sarah nicht umhin zuzugeben. Die Geschichte hatte gezeigt, dass der Mensch jede noch so nutzbringende Erfindung früher oder später als Waffe missbrauchte - vom Rad über das Schwarzpulver bis zum Dynamit. Und nun sprach el-Hakim von einem neuen Geheimnis aus ferner Vergangenheit ...
»Die Flammen des ägyptischen Sonnengottes sind nicht zu vergleichen mit jener neuen Waffe«, gab er flüsternd bekannt. »Weder weiß ich, worin sie besteht noch was sie vermag, aber das Eine Auge sucht nach ihr, fieberhaft, um die Welt in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Und du, Sarah Kincaid, bist der Schlüssel dazu ...«
»Ich?«, fragte Sarah erschrocken und deutete auf sich selbst.
»Auch du fühlst die Bedrohung, nicht wahr? Die dunkle Furcht in deinem Herzen, die dich verfolgt und dich kaum atmen lässt.«
»Das ist wahr«, räumte
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