Das Licht von Shambala
Sarah.
»Natürlich. Mein Meister erwartet Sie.«
»Wie kann er das?«, fragte Sarah. »So weise und gelehrt dein Meister auch sein mag, er konnte doch nicht wissen, dass ich die Geduld verlieren und dir folgen würde ...«
Ufuk begnügte sich mit einem Lächeln als Antwort. Durch die sich öffnende Tür aus dunklem Eichenholz betrat Sarah das Haus. Für einen Sekundenbruchteil fühlte sie sich an einen anderen Ort, an einen anderen Turm erinnert, in dem ebenfalls ein weiser Mann gewohnt hatte. Als sie jenen anderen Turm das erste Mal betreten hatte, war sie noch ein Kind gewesen, nun war sie eine erwachsene Frau. Ihre Befangenheit, als sie in das ungewisse, von exotischen Gerüchen durchsetzte Halbdunkel trat, war dennoch dieselbe.
Die unterste Etage des Hauses war, den orientalischen Gepflogenheiten entsprechend, der Vorratshaltung gewidmet. Der nächste Stock, in den man über eine schmale Treppe gelangte, beherbergte die Küche und einen Aufenthaltsraum. Darüber befanden sich die Unterkünfte der Bediensteten, zu denen offenbar die Vermummten zählten. Bevor Sarah die nächste Treppe hinaufstieg, deren dunkles Holz mit Teppichen beschlagen war, entledigte sie sich ihrer Schuhe - keine Pantoffeln, wie Osmaninnen sie trugen, sondern Stiefel aus Filz. Erst dann erklomm sie langsam die knarrenden Stufen, wohl ahnend, dass sie jeden Augenblick dem Herrn des Hauses gegenübertreten würde.
Als sie das Ende der Treppe erreichte, war ihr, als würde sie in eine andere Welt eintreten, in eine andere Zeit. Dass Hingis und Ufuk ihr folgten, bekam sie kaum mit. Viel zu gebannt war sie vom Anblick der Wunder, die sich ihrem Auge präsentierten. Inmitten all der Folianten und Schriftrollen, der Gefäße und Figuren, der Glücksbringer und Talismane, der Globen und Sternkarten, der Planetenmodelle und Öllampen, die von der niedrigen Decke hingen, fühlte sie sich tatsächlich wieder wie ein staunendes Kind. Überwältigt von der Macht der Erinnerung und einem Gefühl alter Vertrautheit, wandte sie sich um - und war kaum überrascht darüber, in ein Gesicht zu blicken, das sie nur zu gut kannte.
Die Anzahl der Falten, die die von Sonne und Wetter gegerbten Züge zerfurchten, hatte sich seit der letzten Begegnung noch vervielfacht. Dünn und ausgemergelt waren sie. Die Augen waren leer und blicklos wie einst, und genau wie damals trug der alte Mann einen Turban und eine gestreifte djellabah 10 . Sarah trat näher, um sicherzugehen, dass sie sich nicht irrte. Aber es bestand kein Zweifel. Dort auf den Kissen, inmitten all seiner Wissensschätze, saß kein anderer als Ammon El-hakim. Der Weise von Mokattam ...
3.
»Salam aleikum, Sarah«, sagte der alte Ammon und hob sein Haupt, als könnte er die Besucherin sehen. Dabei war sein Augenlicht schon vor langer Zeit verloschen, geblendet vom Glanz der Sterne.
»El-aleikum salam«, hörte Sarah sich selbst den Gruß erwidern. Sie hatte sich noch immer nicht von ihrer Überraschung erholt.
Zuletzt hatte sie den Alten, dessen Name übersetzt »der Weise« bedeutete, in Kairo gesehen, in der alten Sternwarte auf dem Djebel Mokattam. Damals war sie auf der Suche nach dem Buch des Thot gewesen, und Ammon, der der letzte Spross aus dem Geschlecht des Hammurabi war, hatte Sarah auf die richtige Spur gebracht. Danach jedoch war er spurlos verschwunden, wohin, das wusste niemand.
Bis zu diesem Tag ...
»Wie lange ist es her, mein Kind?«, fragte Ammon mit jener brüchigen, aber noch immer kraftvollen Stimme, aus der alle Weisheit des Orients zu sprechen schien. In jungen Jahren hatte Sarah den Alten, der ein enger Freund Gardiner Kincaids gewesen war, deshalb für einen Zauberer gehalten, für einen magischen Mann. Doch die Wirklichkeit, das hatte sie später festgestellt, war beinahe noch faszinierender.
»Mehr als zwei Jahre«, erwiderte Sarah flüsternd. Am liebsten wäre sie auf den Weisen zugerannt und hätte ihn umarmt, aber sie wollte nicht respektlos erscheinen, und so blieb sie an der Treppe stehen, den Oberkörper und das Haupt leicht gesenkt.
»Eine lange Zeit, nicht wahr?«
»In der Tat.« Sarah nickte fassungslos. »Ich glaubte Euch verloren, Meister. Ich dachte, Ihr wärt längst ...«
»... tot?«, fiel er ihr ins Wort und lächelte dünn. »Noch nicht, mein Kind. Obschon es Tage gibt, da meine alten Knochen schmerzen und ich mir wünschte, Allah möge mich in seiner Weisheit abberufen aus dieser Welt. Aber er tut es nicht. Noch nicht ...«
»Ein Glück«,
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