Das Licht von Shambala
du hast ihm geglaubt?«
»Natürlich nicht - nicht zu Beginn. Ich tat seine Worte als das Gerede eines Wahnsinnigen ab und verließ das Gefängnis.«
»Aber das Gift der falschen Schlange begann dennoch zu wirken«, vermutete der Alte.
Sarah nickte. »Anfangs sagte ich mir, dass es Laydon nur darauf ankäme, mich ebenso zu zerstören, wie er meinen Vater zerstört hat, und ich versuchte seine Worte zu vergessen. Aber es gelang mir nicht, denn in vielem, was er sagte, hatte er recht gehabt. Gardiner hat mir tatsächlich viele Dinge vorenthalten. Bis zum heutigen Tag stoße ich immer wieder auf Geheimnisse, die er mir hätte offenbaren können, wenn er es nur gewollt hätte - zum Beispiel seine Erlebnisse im Krieg. Warum also sollte er mich im Hinblick auf meine Kindheit nicht auch getäuscht haben?«
»Ist es dein Verstand, der diese Frage stellt«, fragte Ammon, »oder ist es dein verletzter Stolz?«
»Ich weiß es nicht.« Sie schüttelte unwirsch den Kopf. »Beides vielleicht, aber das allein ist es nicht. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich herausfand, dass Laydon lediglich das ausgedrückt hatte, was ich in meinem Inneren schon die ganze Zeit über gefühlt hatte. Eine Distanz, die im Lauf der Jahre immer größer geworden war, als hätte ich die Wahrheit die ganze Zeit über geahnt, sie mir aber nicht eingestehen wollen.«
»Welche Wahrheit?
»Dass Gardiner Kincaid nicht mein Vater ist.«
»Und Laydon?«
»Ich weiß es nicht. Die Vorstellung, die Tochter eines solchen Scheusals zu sein, ist mir unerträglich«, flüsterte Sarah und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Aber immer wieder entdecke ich Eigenschaften an mir, in denen ich Laydon zu erkennen glaube, und das macht mich wütend.«
»Zum Beispiel?«
»Als er mich damals in Kincaid Manor besuchte, da war ich es, die an das Schicksal glaubte, und er war der kühle Rationalist. Seither ist jedoch viel geschehen, und wenn Ihr mich heute auffordert, der Vorsehung zu vertrauen, so stelle ich fest, dass ich inzwischen genau jene Position eingenommen habe, die Laydon einst vertrat. Vielleicht ja deshalb, weil ich nicht anders kann, weil ich sein Erbe in mir trage. Weil ich in Wahrheit seine Tochter bin ...«
Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Ihr Gesicht in den Händen vergrabend, sank sie vornüber und ließ dem Schmerz, den sie so lange zurückgehalten hatte, freien Lauf. Der Alte streckte die Hand aus und suchte ihr Haupt, dann strich er sanft über ihren Hinterkopf, als wäre sie noch ein kleines Kind.
»Nein, Sarah«, sagte er schließlich.
Aus tränengeröteten Augen schaute sie zu ihm auf. »Nein?«, fragte sie schluchzend. »Was bedeutet das?«
»Der Mörder ist nicht dein Vater«, eröffnete el-Hakim. »Das hat er nur gesagt, um deinen Geist zu verwirren, und ganz offenbar ist es ihm gelungen.«
»Aber ... woher wisst Ihr ...?«
»Ich weiß es«, erklärte der Alte mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Mehr kann ich dir nicht sagen, denn ich habe Gardiner versprochen, nie ein Wort darüber zu verlieren.«
»Worüber?«, wollte sie wissen und trocknete rasch ihre Tränen.
»Über deine Herkunft. Über das, was du bist.«
»Und - was bin ich?«
»Wozu willst du das wissen? Du folgst dem Weg, den dir das Schicksal vorgegeben hat. Das genügt.«
»Es mag Euch genügen, Meister, aber mir genügt es nicht«, widersprach Sarah. »Ich habe fast alles verloren, das mir je etwas bedeutet hat. Das Einzige, was mir geblieben ist, ist meine Identität, und auch die zerrinnt mir unter den Fingern. Also wenn Ihr etwas wisst, so sagt es mir bitte. Ist Gardiner Kincaid mein Vater gewesen oder nicht?«
»Es macht keinen Unterschied«, behauptete der Alte.
»Für mich ja«, beharrte Sarah. »Bitte, Meister, ich muss es wissen!«
Ammon el-Hakim tat einen tiefen Seufzer. Dann schloss er die Augen, als müsste er tief in sich hineinschauen, um die Wahrheit zu ergründen. »Ana muwafiq« 17 , murmelte er dann. »Vielleicht ist die Zeit auch dafür reif.«
»Wofür, Meister?«
»Um dir zu sagen, was dein Herz schon längst erkannt hat - dass Gardiner Kincaid nicht dein leiblicher Vater gewesen ist.«
Unzählige Nächte hatte Sarah über dieser Frage gebrütet, unzählige Male erwogen, sie Ammon zu stellen. Als die Antwort nun über seine dünnen Lippen kam, klang sie so lapidar und beiläufig, dass es schon fast verletzend war.
»Er - er war es nicht?«, fragte Sarah dennoch.
»Nein«, bekräftigte der Alte,
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