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Das Licht von Shambala

Das Licht von Shambala

Titel: Das Licht von Shambala Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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nachspürte, bekam sie ihn mitunter zwei, drei Tage nicht zu sehen. Dann jedoch tauchte er aus dem Meer alter Bücher und Schriften, in das er sich so vollständig hineinversenkt hatte, wieder auf und verkündete feierlich, wohin die nächste Expedition sie führen würde. Sarah liebte es, ihn auf diesen Reisen zu begleiten, und obwohl sie erst zwölf Jahre alt war, begann sie die Begeisterung ihres Vaters für die Vergangenheit zu teilen. Während sich andere Mädchen ihrer Alters darin gefielen, die Kleider ihrer Mütter und großen Schwestern anzuprobieren und all jene strengen Regeln zu erlernen, die eine junge Dame aus gutem Hause zu berücksichtigen hatte, wenn sie eine gute Partie machen wollte, beschäftigte sich Sarah lieber mit Geschichtsbüchern. Und den Lateinunterricht, den Gardiner ihr persönlich erteilte, sah sie nicht als überflüssige Qual an, sondern als Tor zu einer anderen, vergangenen Welt ...
    Barfuß ging sie den Korridor hinab, an dessen Ende die Bibliothek lag. Die Tür war geschlossen, aber an dem hellen Schein über der Schwelle war zu erkennen, dass drinnen Licht brannte. Wenn ihr Vater einem neuen Geheimnis auf der Spur war, pflegte er bis spät in die Nacht zu arbeiten; eigentlich war es Sarah dann untersagt, ihn zu stören, aber in diesem Fall würde er wohl eine Ausnahme machen.
    Ein Albtraum hatte sie aus dem Schlaf gerissen.
    Wieder hatte sie sie vor sich gesehen, jene dunklen Schatten, deren Ursprung sie sich nicht erklären konnte, weil er irgendwo in der ›Dunkelzeit‹ verborgen war ...
    Sarah drücke die Klinke, öffnete die Tür einen Spaltweit und spähte hinein.
    Das warme Licht einer Gaslaterne beleuchtete die Regale, die bis zur hohen Decke hinauf mit Büchern gefüllt waren: wissenschaftliche Werke zumeist, aber auch zahlreiche Quellentexte. Sogar einige Handschriften befanden sich darunter, die Gardiner erworben hatte. In der Mitte der Bibliothek stand ein großer Lesetisch mit einem bequemen Sessel davor, dessen Rückenlehne Sarah zugewandt war, sodass sie nicht sehen konnte, ob jemand darin saß.
    »Vater?«, fragte sie leise.
    Sie bekam keine Antwort, also schlich sie auf leisen Sohlen hinein. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Gardiner Kincaid so lange über alten Schriften gebrütet hatte, bis er dabei eingeschlafen war.
    Vorsichtig umrundete Sarah das große Sitzmöbel, um überrascht festzustellen, dass ihr Vater nicht darin saß. Im Lichtschein der Tischlampe lagen ein aufgeschlagenes Buch und einige Blatt Papier, daneben Gardiners Brille und seine Pfeife, die umgedreht in einem Aschenbecher lag. Offenbar hatte er seine Arbeit nur für einen kurzen Moment unterbrochen, um ein wenig Luft zu schnappen oder weil die Natur ihn dazu gedrängt hatte. Sicher würde er jeden Augenblick zurückkommen.
    Ihre Neugier trieb Sarah an den Lesetisch. Schriftwerke jeder Art pflegten sie magisch anzuziehen, denn sie konnte sich kaum etwas Spannenderes vorstellen, als in den Hinterlassenschaften vergangener Zeiten alten Rätseln nachzuspüren. Vor allem die alten Folianten mit ihren dicken Ledereinbänden und ihren Seiten aus Pergament hatten es ihr daher angetan.
    Das Buch, in dem ihr Vater gelesen hatte, war längst nicht so alt. Dennoch weckte es Sarahs Neugier, da seine Seiten mit einer seltsam altertümlichen Schrift bedruckt waren, die Sarah noch nie zuvor gesehen hatte. Zwar konnte sie hier und dort ein paar Buchstaben entziffern, aber die Worte ergaben keinen Sinn, wohl weil sie einer anderen Sprache entstammten.
    Sarah griff nach dem Buch, steckte den Zeigefinger zwischen die aufgeschlagenen Seiten und schlug zurück zum Anfang, um den Titel zu lesen. Der war in gewöhnlichen Lettern geschrieben, deren Sinn Sarah dennoch nicht erfasste, da sie die Sprache nicht verstand:
     
    DIE HELLENEN IN SKYTHENLAND
    von
    Karl Johann Heinrich
    Berlin 1855
     
    Berlin, das wusste Sarah, war die Hauptstadt des soeben erst gegründeten Deutschen Reiches. Sie hatte ihren Vater davon sprechen hören. Also nahm sie an, dass das Buch in deutscher Schrift und Sprache gehalten war, die ihr Vater ganz offenbar beherrschte. Sie beschloss, ihn zu bitten, dass er ihr ein wenig Deutsch beibringen sollte. Dann schlug sie das Buch wieder an der richtigen Stelle auf und legte es zurück auf den Tisch.
    Dabei stieß sie an die Notizen, die ihr Vater sich gemacht hatte, und eines der Blätter fiel zu Boden. Mit pochendem Herzen bückte sich Sarah, um es aufzuheben. Gardiner Kincaid war ein

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