Das Licht von Shambala
sich über die Bedeutung der Worte in vollem Umfang klar zu werden suchte.
Nach Jahrzehnten des Wartens, in denen er seine Pläne sorgfältig vorbereitet und jeden noch so kleinen Mosaikstein gesammelt hatte, um ihn in das große Gesamtbild einzufügen, gab es endlich Erfolg zu vermelden. Keinen Teilsieg, keinen kurzatmigen Triumph, kein Strohfeuer, das im einen Moment aufloderte, um im nächsten wieder zu verlöschen. Sondern den endgültigen Durchbruch!
Damit würde ihm gelingen, was so viele vor ihm erfolglos versucht und worum sich selbst Eroberer vom Schlage eines Alexanders oder Napoleons vergeblich bemüht hatten: die absolute Kontrolle zu erringen, die größte Macht auf Erden ...
Nun endlich war es so weit, und es gab nichts, das ihn mehr aufhalten konnte. All die Bemühungen, all die Opfer, die er gebracht hatte, würden sich nun endlich auszahlen und ihn ans Ziel seiner Wünsche und Träume bringen, und ein Schicksal, das vor Jahrtausenden seinen Anfang genommen hatte, würde sich endlich vollenden.
»Bien«, sagte er laut, während er das Telegramm wieder zusammenfaltete und in die Innentasche seines Rocks steckte. »Die Zeit zur Abreise ist gekommen. N'est-ce pas ...? «
2. B UCH
S KYTHENLAND
1.
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
Seit vier Tagen sind wir nun auf See, haben Istanbul und den Bosporus hinter uns gelassen und Varna erreicht, die erste Station unserer Reise, wo wir die Nacht über vor Anker liegen.
Die ›Strela‹ ist ein zuverlässiges Dampfschiff das rasch durch die Wellen gleitet und dessen russische Mannschaft ihr Handwerk versteht. Dennoch kann ich nicht behaupten, mich an Bord besonders wohl zu fühlen.
Anders als Friedrich, der sich mit Viktor Abramowitsch bestens versteht, habe ich Mühe, unserem Gastgeber trotz dessen offenkundiger Jovialität zu vertrauen. Als neutraler Schweizer, der er nun einmal ist, tut Hingis dies mit den Ressentiments ab, die zwischen Abramowitschs Land und dem meinen herrschen, aber ich teile diese Auffassung nicht; seit ich an Bord gekommen bin, hat eine seltsame Unruhe von mir Besitz ergriffen, eine Furcht, die sich aus dem Gefühl nährt, niemals allein zu sein und auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden. Auch die Gegenwart des alten Ammon vermag daran nichts zu ändern. Dabei sollte mich die Tatsache, dass mich der Weise auf dieser Fahrt begleitet, doch eigentlich beruhigen ...
Abramowitsch und seinem Kapitän gegenüber habe ich el-Hakim und den jungen Ufuk als Führer ausgegeben; es war den beiden anzusehen, dass sie sich schwerlich vorstellen konnten, von was für Nutzen ein altersschwacher Greis und ein halbwüchsiger Knabe auf einer archäologischen Expedition sein mögen, aber sie stellten keine Fragen, und ich gab keine unverlangten Antworten. Da sie ihrer Aufgabe entsprechend als Diener eingestuft wurden, haben Meister Ammon und der junge Ufuk ihr Quartier auf dem Unterdeck, wo auch die Mannschaften untergebracht sind. Natürlich bedaure ich dies zutiefst und hätte el-Hakim gerne den Komfort der geräumigen Kabine angeboten, welche ich selbst bewohne; aus Gründen der Tarnung verbietet sich dies jedoch, und der Weise scheint alles andere als betrübt darüber zu sein, dass er nicht an den Mahlzeiten teilnehmen muss, die morgens, mittags und abends in der Offiziersmesse eingenommen werden.
Ein Privileg, um das ich ihn angesichts der Tischgesellschaft in jedem Fall beneide ...
H ANDELSSCHIFF ›S TRELA ‹
H AFEN VON V ARNA , F ÜRSTENTUM B ULGARIEN
2. A PRIL 1885
Zum Abendessen - es war Gründonnerstag - hatte es russischen Borschtsch gegeben.
Zumindest an der Verpflegung hatte Sarah nichts auszusetzen. Der ukrainische Smutje, der auf der ›Strela‹ seinen Dienst versah, wusste seiner winzigen Kombüse wohlschmeckende Mahlzeiten zu entlocken, die so manchem Passagierdampfer zur Ehre gereicht hätten.
Nach dem Essen pflegte Viktor Abramowitsch das zu tun, was auch die Gentlemen in England nach beendeter Mahlzeit gerne taten: nämlich in blauen Dunst gehüllt, über das Wesen der Welt zu schwadronieren. Während es einem Briten jedoch niemals in den Sinn gekommen wäre, dies in Gegenwart einer Dame zu tun, erlegten sich Abramowitsch und seine Offiziere ungleich weniger Zurückhaltung auf, und sogar Hingis griff hin und wieder zu einer Zigarre.
Grundsätzlich hatte Sarah damit kein Problem - zu Hause in England hatte sie sich oft genug darüber beklagt, wenn Männer Frauen wie Zierpflanzen behandelten und ihnen
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