Das Licht von Shambala
»aber Mortimer Laydon ist es ebenfalls nicht.«
»Aber - woher komme ich dann?«
»Das weiß ich nicht, mein Kind, und auch Gardiner wusste es nicht. Gleichwohl hat er dich an Kindes statt angenommen und dir eine Zuflucht und Heimat gegeben. Dafür solltest du ihm dankbar sein und ihm nicht zürnen, denn er wollte immer nur das Beste für dich.«
Sarah nickte. Nun also war es gewiss, wusste sie mit Bestimmtheit, was sie bislang nur vermutet hatte: Der Mann, den sie als ihren Vater verehrt und geliebt hatte, war in Wirklichkeit ein Fremder gewesen, der sie als sein eigenes Kind aufgezogen hatte. Aus welchem Grund, entzog sich ihrer Kenntnis, aber sie ahnte, dass es genau das gewesen war, was ihr Vater ihr mit den letzten Atemzügen hatte sagen wollen, damals, in den Katakomben von Alexandria.
Die Enthüllung bestürzte sie weit weniger, als sie befürchtet hatte. Im Gegenteil, sie fühlte Erleichterung, nun, da sie die Wahrheit kannte, und ein guter Teil jener hilflosen, ohnmächtigen Wut, die sie empfunden und die sich zuletzt sogar gegen ihre Freunde gerichtet hatte, verpuffte. Gleichzeitig ergaben sich Myriaden neuer Fragen: Wenn weder Gardiner Kincaid noch Mortimer Laydon ihr Vater waren, wer war es dann? Wo lagen ihre wahren Wurzeln? Wer war sie einst gewesen, dass sich ein solches Rätsel um sie rankte?
»Natürlich«, fuhr el-Hakim fort, als könne er ihre Gedanken erraten, »möchtest du nun wissen, wo dein tatsächlicher Ursprung liegt. Deine Spuren, Kind, verlieren sich in der Dunkelzeit, die auch ich nicht zu ergründen vermag. Aber ich fühle, dass sich die Schleier des Vergessens schon bald heben werden - und dann werden wir gemeinsam herausfinden, was damals geschehen ist.«
»Gemeinsam?«, fragte Sarah. »Was soll das heißen?«
»Aus diesem Grund bin ich zu dieser späten Stunde zu dir gekommen«, eröffnete ihr der Weise mit einem jungenhaften Lächeln, das für einen Augenblick die Falten aus seinem Gesicht verschwinden ließ. »Ich wollte dir mitteilen, dass ich dich auf deiner Reise begleiten werde. Natürlich nur, wenn du es erlaubst.« »Wie bitte?« Sarah glaubte, nicht recht zu hören.
»Ich werde mein Haus noch einmal verlassen und mich auf Wanderschaft begeben, so, wie ich es in jungen Jahren getan habe«, bekräftigte der Alte. »Damals hat meine Lebensreise begonnen - nun wird sie bald zu Ende gehen. Aber ich spüre, dass ich noch gebraucht werde, dass es noch eine Pflicht zu erfüllen gilt ...« »A-aber Meister«, widersprach Sarah erschrocken, »so etwas dürft ihr nicht sagen!«
»Warum nicht?« Erneut lächelte er spitzbübisch. »Kannst du die Zeit aufhalten, mein Kind? Ich kann es nicht. Und vielen, die weiser und erfahrener gewesen sind als ich, ist es ebenfalls nicht gelungen. Wir können unsere Zeit auf Erden nur so sinnvoll wie möglich nutzen, und genau das will ich tun. Deshalb, mein Kind, bitte ich dich, an deiner Erkundung teilnehmen zu dürfen.« »D-das ist ...«, begann Sarah stammelnd.
»Zu viel verlangt?«, fragte er. »Der junge Ufuk wird mich als mein Diener begleiten, und ich verspreche, dass ich dir nicht zur Last fallen werde.«
»... mehr, als ich je zu hoffen wagte«, brachte Sarah ihren Satz zu Ende. »Mit Eurem Ratschlag und Eurer Weisheit auf unserer Seite habe ich größere Hoffnung denn je, dass wir den Berg Meru finden werden, und mit ihm auch meinen geliebten Kamal. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die Verantwortung übernehmen kann. Die Reise wird lange dauern und beschwerlich sein, und womöglich werden wir unterwegs auf Gefahren stoßen, die ...«
»Sorge dich nicht um mich, mein Kind. Ich habe dem Tod schon ins Auge geblickt, da warst du noch nicht einmal geboren. Und es ist mein freier Wille und ausdrücklicher Wunsch, dass ich dich auf dieser Fahrt begleite. Willst du es mir erlauben?«
»Natürlich erlaube ich es, Meister«, erwiderte Sarah, ergriff die Hände des Alten und küsste sie. Ein Gefühl tiefer Zuversicht überkam sie, wie sie es lange nicht mehr verspürt hatte. Es durchbrach ihre Selbstzweifel und Ängste wie heller Sonnenschein einen wolkenverhangenen Tag. »Wie soll ich Euch nur je dafür danken?« »Aber nein, Sarah Kincaid«, widersprach Ammon leise, »ich bin derjenige, der zu danken hat.«
U NBEKANNTER O RT
Z UR SELBEN Z EIT
Die Hand mit dem Telegramm, an der ein goldener Siegelring mit dem Emblem eines Obelisken blitzte, zitterte leicht. Wieder und wieder überflog ihr Besitzer die Zeilen, während er
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