Das Licht von Shambala
Jungen mit pechschwarzem Haar und ebenso schwarzen Augen vorzustellen berührte sie angenehm. »Wie ist er so gewesen? Erzählt mir von ihm!«
»Wach und aufmerksam«, entgegnete der Alte. »Und man konnte schon früh erkennen, dass mehr in ihm ruht.«
»Wie meint Ihr das?«
Der Blick des Alten war wissend. »Willst du behaupten, du hättest es nicht ebenfalls bemerkt, mein Kind? Dass du nicht gespürt hättest, dass ihn etwas umgibt, das anders ist? So, als hätte ihn das Schicksal zu etwas ausersehen, das jenseits unseres Begreifens liegt?«
Sarah war wie vom Donner gerührt. Sie hatte es niemals ausgesprochen, und in dem Moment, als der Weise es sagte, war sie sich nicht einmal mehr ganz sicher, ob sie den Gedanken je bewusst gefasst hatte; aber auch sie hatte bemerkt, dass Kamal nicht wie andere Männer war. Ihn schien etwas zu umgeben, das sich nicht ohne Weiteres erklären ließ, eine Aura des Besonderen, die Sarah trotz des schäbigen Kaftans und des ungepflegten Barts, welche Kamal bei ihrer allerersten Begegnung getragen hatte, sofort aufgefallen war. Vielleicht war diese Aura, diese Ahnung von Größe sogar der Grund dafür gewesen, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte ...
»Glaubt Ihr, dass es Menschen gibt, die füreinander bestimmt sind, Meister?«, erkundigte sie sich.
»Von wem sprichst du? Von dir und Kamal?«
Sie nickte zaghaft.
»Wie du weißt, mein Kind, glaube ich an die Macht der Vorsehung«, erwiderte der Alte, »aber in eurem Fall muss man noch nicht einmal davon überzeugt sein, um es zu erkennen. Denn dir, Sarah Kincaid, wohnt dieselbe rätselhafte Kraft inne wie Kamal. Auch bei unserer ersten Begegnung habe ich sie gespürt.«
»Ihr scherzt, Meister.«
»Ahyanan 21 «, gab der Weise zu, »aber nicht in diesem Fall. Hast du es denn noch nie gefühlt? Hast du nie bemerkt, dass euch beide mehr verbindet als die bloße Anziehung zwischen Mann und Frau? Eure Seelen sind verwandt, Sarah, so, als wären sie einander schon einmal begegnet.«
»Ihr meint ... in einem früheren Leben?« Es kostete Sarah Überwindung, die Frage auszusprechen, denn anders als Maurice du Gard glaubte sie nicht an Dinge wie Reinkarnation und Wiedergeburt. Schon das Konzept eines ordnenden Schicksals war eine Herausforderung, zu weiteren Zugeständnissen an die »Domäne des Irrealen«, wie Friedrich Hingis es nannte, war sie nicht bereit.
»La«, verneinte Ammon. »Ich spreche von dem, was hinter dir liegt, obschon du dich nicht daran erinnern kannst ...«
»Die Dunkelzeit?«, fragte Sarah. Erst jetzt wurde ihr klar, worauf der Weise hinauswollte. »Ihr nehmt an, Kamal und ich kannten uns von damals ...?«
Ammon machte eine unbestimmte Handbewegung. »Es ist ein wenig wie mit dieser Tontafel«, sagte er, auf die Scherben deutend, die vor ihm ausgebreitet lagen. »Die Antwort ist bereits da, doch um sie zu verstehen, müssen wir alle Teile zusammensetzen. Vorher bleibt uns nur, was alle Ahnungslosen tun - zu raten und zu vermuten.«
»Und was genau vermutet Ihr, Meister?«, wollte Sarah wissen.
Die blinden Augen des Weisen schienen sie direkt anzusehen, wobei nicht zu ergründen war, was er dachte. »Es ist spät«, sagte er dann. »Bei Tagesanbruch wird die Suche fortgesetzt, und du wirst meine Hilfe brauchen. Ich werde mich zur Ruhe begeben.«
Er sammelte die Scherben ein und machte Anstalten, sich zu erheben. Ufuk ließ seine Schnitzerei liegen und eilte herbei, um ihm zu helfen.
»Meister!«, beschwerte sich Sarah. »So könnt Ihr mich nicht einfach sitzen lassen. Was wisst Ihr über Kamal? Was genau verbindet uns?«
Während Ufuk ihn bereits zu seinem Zelt führte, wandte sich el-Hakim noch einmal um. »Die Scherben der Vergangenheit, Sarah«, brachte er in Erinnerung. »Setze sie zusammen, und das Rätsel wird sich lösen. Gute Nacht.«
Damit blieb sie allein am Feuer zurück, und obwohl es dem Weisen einmal mehr gelungen war, ihr Innerstes mit ein wenig Trost und Zuversicht zu erhellen, hatte Sarah das Gefühl, dass er ihr etwas verschwieg.
Etwas, das Kamal betraf ...
... und sie selbst.
Am 21. April, auf den Tag genau einen Monat, nachdem sie in der Osmanischen Staatsbibliothek auf die ersten Hinweise auf die Arimaspen gestoßen waren, wurden Sarah und ihre Begleiter auch im morastigen Boden der Chersonnes fündig.
Dem Erfolg vorausgegangen waren vier Tage intensiver Grabungen, in denen sich die Expedition Planquadrat für Planquadrat vorangearbeitet hatte, quer über den Höhenzug,
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