Das Licht von Shambala
erkämpfter, jedoch unstrittiger Sieg gefeiert. Hier jedoch, am Schauplatz des Schlachtens, werde ich das Gefühl nicht los, dass es dabei nur Verlierer gab.
M OUNT I NKERMAN , K RIM
16. A PRIL 1885
Der erste Tag der Grabungen auf den zerklüfteten Höhenzügen, die sich südöstlich von Sewastopol erstreckten, brachte nichts anderes zutage als immer neue Hinweise auf das Morden, das sich vor über dreißig Jahren an diesem Ort zugetragen hatte.
Da sich die Ereignisse jenes schicksalhaften Novembertages des Jahres 1854 tatsächlich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt zu haben schienen, erwies sich Yuri, allen Bedenken zum Trotz, als wichtige Hilfe. Auch nach mehr als drei Jahrzehnten vermochte er jeden Hügel und jede Senke exakt zu benennen, und bisweilen hatte es fast den Anschein, als würden die Schatten der Vergangenheit dabei wieder für ihn lebendig. Da er in Paulows Heer als einfacher Soldat gedient hatte, war sein Blickwinkel auf das Schlachtgeschehen freilich eingeschränkt gewesen, und es erwies sich als schwierig und bisweilen fast unmöglich, seine Aussagen mit Gardiner Kincaids Schilderungen in Einklang zu bringen.
Von jenem sumpfigen Tal aus, das der Fluss Tschernaya durchfließt, arbeitete sich die Expedition in westlicher Richtung voran; den Hügelkamm hinauf, auf dem einst die britischen Batterien gestanden hatten, und von dort über den Hang, an dem die britischen Grenadier Guards auf Yuris Regiment Selenghinsk getroffen waren und es ein entsetzliches Blutbad gegeben hatte. Nach allem, was Sarah in Erfahrung gebracht hatte, war das 55. Westmorland Regiment, zu dem auch Gardiner Kincaid gehört hatte, ein Stück weiter westlich positioniert gewesen, auf jenem Höhenzug, dem die Militärs den Namen Mount Inkerman gegeben hatten, obwohl sich das eigentliche Dorf dieses Namens ein gutes Stück weiter östlich befand.
Nordwestlich von Mount Inkerman erstreckte sich ein Taleinschnitt, durch den eine alte Poststraße verlief; auf der anderen Seite gab es eine als Shell Hill bezeichnete Erhebung, auf der sich einst die russischen Stellungen befunden hatten. Wenn es in der Nacht zum 5. November also Gardiners Auftrag gewesen war, den Feind auszukundschaften, so war es vernünftig anzunehmen, dass sich jene Stelle, wo ihn der zerklüftete Boden verschluckt hatte, genau zwischen Mount Inkerman und dem Shell Hill befand - ein etwa 600 Yards im Quadrat messendes, zerklüftetes Areal, das von wilder Vegetation überzogen war.
So chaotisch und unregelmäßig, wie das Terrain sich zeigte, schien auch die Schlacht verlaufen zu sein. Auf engstem Raum, eingeengt von Klippen und Schluchten, waren rund 56 000 Mann aufeinander getroffen. Da zum Zeitpunkt des russischen Angriffs am frühen Morgen dichter Nebel über dem Gelände gelegen hatte, der die Sicht erschwert und die Artillerie beider Seiten zunächst stark beeinträchtigt hatte, war schon bald nach dem Beginn der Kämpfe ein wildes Hauen und Stechen entbrannt, in dem - schenkte man Yuris Aussagen Glauben - der Einsatz des einzelnen Soldaten weit mehr gewogen hatte als das strategische Geschick der Generäle. Das wilde Gelände hatte es den Russen unmöglich gemacht, ihre Taktik dicht stehender Schützenreihen zu entfalten, und so war es schließlich gekommen, dass rund 16 000 Briten und Franzosen das Gelände gegen eine 40 000 Mann umfassende russische Angriffsmacht verteidigt hatten. Ein militärischer Triumph ohnegleichen, der von den britischen Zeitungen denn auch weidlich gefeiert worden war - der blutgetränkte und von Sprengkratern übersäte Boden von Inkerman jedoch sprach eine andere Sprache.
Es gefiel Sarah nicht, jenen Boden nach Hinweisen zu durchwühlen, und am liebsten wäre sie umgekehrt, um die Ruhe der Gefallenen nicht zu stören. Aber die Archäologin in ihr ermahnte sie, sich nicht von ihren Gefühlen vereinnahmen zu lassen.
Mit wissenschaftlicher Akribie gingen Hingis und sie zu Werke: Mit Hilfe des Theodoliten, den der Schweizer wohlweislich noch in Konstantinopel erstanden hatte, vermaßen sie das unebene Gelände und teilten es in Planquadrate ein, die von Norden nach Süden und von Osten nach Westen nummeriert wurden. Nach diesem Schema würden sich die beiden Grabungsgruppen, von denen die eine Sarah, die andere Friedrich Hingis beaufsichtigen würde, systematisch voranarbeiten. Um den Fortgang der Grabungen zu beschleunigen, hatte Sarah Yuri beauftragt, im Dorf einige kräftige Männer anzuwerben, natürlich
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