Das Licht von Shambala
eine Expedition in die Tiefe begeben hätte.
Sarah konnte es ihm nicht verdenken.
Auch ihr war nicht entgangen, dass sich etwas verändert hatte, seit sie den Zugang zu der Kammer entdeckt hatten. Von einem Moment zum anderen schien es dunkler und kälter geworden zu sein - aber natürlich war das nur Einbildung und sowohl die sinkenden Temperaturen als auch das nachlassende Licht lediglich dem zu Ende gehenden Tag geschuldet. Warum, fragte sich Sarah, fühlte sie dann jedoch ein Gefühl unheimlicher Bedrohung, wann immer sie in den Abgrund schaute?
Sie hütete sich, Hingis etwas von ihren Bedenken zu sagen. Stattdessen warf sie Fackeln und Schwefelhölzer in einen Kanvasbeutel und ließ sich ein Seil sowie eine volle Feldflasche geben. Den Colt Frontier trug sie ohnehin am Gürtel, auch wenn sie ahnte, dass er ihr vor den Gefahren, die dort unten lauerten, keinen Schutz bieten konnte.
Hingis rüstete sich ebenfalls für den Abstieg. Trotz seiner Bedenken hätte es sich der Schweizer niemals nehmen lassen, seine Freundin auf die wagemutige Exkursion zu begleiten. Zum dritten Teilnehmer der Erkundung bestimmte Sarah Yuri, den Oberbefehl über das Lager und die Helfer übertrug sie in ihrer Abwesenheit el-Hakim.
Seile wurden herangeschafft, an denen die Teilnehmer der Expedition in die Tiefe hinabgelassen wurden. Den Anfang machte Yuri, der seine schwere Littikhsky-Muskete, die ihm in Inkerman nach eigenen Angaben schon einmal treue Dienste geleistet hatte, auf dem Rücken trug. Ihm folgte Sarah, als Letzter kam Hingis - und schon im nächsten Moment hatte die dunkle Tiefe sie alle drei verschlungen.
»Hoffentlich werden sie dort finden, was sie suchen«, sagte Ufuk auf Türkisch, sodass die russischen Gräber ihn nicht verstehen konnten.
»Insch'allâh«, erwiderte el-Hakim.
6.
M OUNT I NKERMAN , K RIM
A BEND DES 21. A PRIL 1885
Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die spärlichen Lichtverhältnisse unter Tage gewöhnt hatten. Dann gingen Sarah und ihre beiden Gefährten daran, die unterirdische Kammer zu untersuchen, auf die die Ausgräber gestoßen waren, und im Licht der Fackeln verblassten die Schatten der Vergangenheit.
Die Kammer war ein unterirdischer Raum von etwa acht Yards Länge und ebensolcher Breite. Die Raumhöhe betrug an der niedrigsten Stelle nur rund zwei Yards, und es gab einen Durchgang, der über einige Stufen in eine weitere Kammer zu führen schien.
Der Boden bestand aus nacktem Fels, ebenso wie die Wände. Lediglich Teile der Decke waren aus Steinquadern zusammengefügt, die an einigen Stellen eingebrochen waren - eine Folge der Detonationen, die sich vor mehr als drei Jahrzehnten an der Oberfläche ereignet hatten. Dass die Decke nicht ganz eingestürzt war, verdankte sie wohl nur den steinernen Säulen, die das Gewölbe stützten. Sarah vermutete, dass es sich um natürliche Höhlen gehandelt hatte, die erst mit der Zeit ausgebaut worden waren. Dergleichen war keine Seltenheit, gerade bei Nomadenvölkern, die keine eigenständige Architektur entwickelt hatten.
»Sarah!«, rief Hingis, der an eine der Wände getreten war und sie im Fackelschein betrachtete, plötzlich zu ihr herüber. »Schau dir das an!«
Sie sah sofort, was der Schweizer meinte: In den Fels waren Darstellungen gehauen, bildliche Symbole und Ornamente.
»Skythisch«, stellte Sarah fest, während sie einige der Bilder mit den Händen befühlte.
»Diese hier ja«, räumte Hingis ein und schwenkte die Fackel ein Stück weiter. »Hier allerdings entziehen sie sich einer eindeutigen Zuordnung. Sie sind weder skythischen Ursprungs noch kommen sie mir griechisch oder makedonisch vor.«
»Das ist wahr«, stimmte Sarah zu. Die Ornamente waren in einem sehr schlichten Stil gehalten, der auf einfache geometrische Formen setzte und auf Verzierungen jedweder Art ganz verzichtete. In Gedanken ging Sarah die altorientalischen Stile durch, fand jedoch keine Übereinstimmung. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass die Bilder sie an etwas erinnerten, als hätte sie zumindest ähnliche Darstellungen schon einmal gesehen.
»Ägyptisch vielleicht?«, fragte Hingis.
»Kaum.« Sie schüttelte den Kopf. »Schon viel eher ...«
»Ja?«, hakte der Schweizer nach.
»Natürlich!« Sarah lachte erleichtert auf. »Dass ich nicht eher darauf gekommen bin! Die Darstellungen ähneln der, die im Codicubus enthalten waren! Die Skizze des Berges Meru ...«
»Mein Gott!«, entfuhr es Hingis. »Du hast völlig recht! Die
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