Das Licht von Shambala
nur unter strenger Geheimhaltung ihrer tatsächlichen Identität.
Ein Stück östlich der alten Poststraße, unweit der Stelle, wo auch das 55. Regiment einst campiert hatte, schlugen sie ihr Lager auf: Vier große Zelte, von denen eines den Proviant und die Ausrüstung beherbergte. Während tagsüber die Sonne von einem fahlgrauen Himmel geschienen hatte und es angenehm warm gewesen war, brach mit der Dunkelheit empfindliche Kälte über die Chersonnes herein. Ein Lagerfeuer wurde entzündet und Wachschichten eingeteilt, und einmal mehr nahm Sarah sich nicht aus der Regelung aus.
Den geladenen Colt Frontier auf den Knien, hockte sie am Feuer. Ihre Damenkleider hatte sie gegen Reithosen und -stiefel getauscht, dazu trug sie Bluse und Weste und den unvermeidlichen Sam-Browne-Gürtel mit dem Holster und dem Messer daran. Darüber hatte Sarah den fellgefütterten Ledermantel angezogen, der ihr schon in Griechenland gute Dienste geleistet und den sie eng um ihre Schultern gelegt hatte, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen.
Sie war nicht allein am Feuer.
Zwar hatten sich Hingis und Yuri bereits zur Ruhe begeben, weil sie die späteren Wachschichten übernehmen würden; der alte Ammon jedoch leistete Sarah Gesellschaft, während Ufuk ein Stück abseits saß und an einem Stück Holz schnitzte. Zum Abendessen hatte es eine etwas streng schmeckende, aber sättigende Mahlzeit gegeben, die Yuri aus Bohnen und Fisch zubereitet hatte und deren Geruch noch immer in der Luft lag. Kalter Nordwind strich beständig durch die Senke und ließ die Zeltplanen geräuschvoll flattern, dazu war in der Ferne das Heulen von Wölfen zu vernehmen.
»Hört Ihr das, Meister?«
Der Weise war einmal mehr damit beschäftigt, die Scherben einer Tontafel zu sortieren, deren Kanten und eingeritzte Zeichen seine alten Finger wieder und wieder befühlten. Fast hatte es den Anschein, als könnte er sie auf diese Weise sogar lesen.
»Ja, mein Kind. Die Jäger der Nacht sind auf dem Weg. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Sie fürchten das Licht und das Feuer.«
»Ich weiß.« Sarah schüttelte den Kopf. »Die Wölfe sind es nicht, die mich ängstigen. Es ist diese Gegend.« Sie schaute sich wachsam um. »Sie ist mir unheimlich.«
»Aus gutem Grund. Kein Ort kann so viel Tod und Sterben sehen, ohne etwas davon in sich aufzunehmen. Dieser Boden ist von Blut durchdrungen, und die Geister derer, die hier gefallen sind, sind in mancher Weise noch gegenwärtig.«
»Ich glaube nicht an Geister«, stellte Sarah klar. »Aber ich muss immerzu an das denken, was hier geschehen ist. Es muss ein entsetzliches Massaker gewesen sein ...«
»Wie immer, wenn der Mensch in den Krieg zieht und seinen Bruder tötet«, bestätigte el-Hakim.
»Wird das jemals enden?«, fragte Sarah.
»Es kann geschehen«, versicherte der Alte, »aber manche Dinge brauchen Zeit, mein Kind, viel Zeit, und uns bleibt nichts, als uns in Geduld zu üben - genau wie du bei deiner Suche nach Kamal.«
»Geduld.« Sarah schnaubte. »Verzeiht, Meister, aber ich kann es nicht mehr hören. Seit Alexandrien übe ich mich darin. Ich warte ab und reagiere und habe dabei doch immer das Gefühl, dass die Gegenseite mir voraus ist. Ich habe das Warten satt.«
»Das ist verständlich«, gab Ammon zu. »Dennoch musst du lernen, dass es Dinge gibt, die nicht in deiner Macht liegen. Vertraue auf die Ordnung, Sarah. Dann brauchst du das Chaos nicht zu fürchten. Du weißt, was Kamal in einem Augenblick wie diesem sagen würde.
»In der Tat.« Sie nickte, und trotz der stillen Verzweiflung, die sich ihrer bemächtigt hatte, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. »Insch'allâh«, flüsterte sie. »Wenn Gott es will.«
Der Alte nickte. »Wenigstens das hast du nicht vergessen.«
»Wie gut kennt Ihr Kamal?«, fragte Sarah. Bislang hatte sie es vermieden, über ihren Geliebten zu sprechen, weil es ihr zu schmerzvoll erschienen war. Aber in diesem Augenblick verlangte es sie danach. »Er sagte mir einst, dass er Euch begegnet wäre ...«
»Maraka al-haq 20 «, bejahte Ammon. »Vor langer Zeit ...«
»Wie kam es dazu?«
»Sein Vater hat ihn mir vorgestellt. Nara Ben Haqaiq war der Anführer des Tuareg-Stammes, der dazu ausersehen war, das Buch von Thot zu bewachen, und obschon Kamal zu diesem Zeitpunkt noch ein halbwüchsiger Knabe war, stand bereits fest, dass ihm diese Aufgabe eines Tages übertragen würde.«
»Noch ein halbwüchsiger Knabe?« Erneut lächelte Sarah. Sich Kamal als
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