Das Licht von Shambala
zerschlagen.«
»Warum wart ihr nur noch wenige?«
»Zum einen, weil der Bruderkrieg unsere Zahl reduziert hatte. Zum anderen aber auch, weil wir, um unser Überleben zu sichern, gezwungen waren, uns über die Jahrhunderte mit gewöhnlichen Menschen zu verbinden. Dadurch wurde unser Erbe verwässert, und jene, die das Zeichen des Einen Auges trugen, wurden immer weniger. Dennoch haben wir den Kampf gegen die Verräter niemals aufgegeben und glaubten sie schließlich besiegt.«
»Aber das war ein Irrtum, richtig?«, mutmaßte Hingis.
»Ja und nein. Denn auch wenn die Bruderschaft selbst vernichtet war, die Saat des Verrats war es nicht, und sie wirkte weiter fort.«
»Was genau ist geschehen?«, fragte Sarah, die begierig darauf war, nun endlich zu erfahren, was es mit ihren geheimnisvollen Gegenspielern auf sich hatte.
»Auf dem Sterbebett vertraute Napoleon das geheime Wissen der Bruderschaft, eingeschlossen in einen Codicubus, einem Gefolgsmann an, einem Gardeoffizier, der ihm bis zur letzten Stunde die Treue hielt. Dieser wiederum gab es an seinen Sohn weiter, der nichts unversucht ließ, den Behälter zu öffnen - bis es ihm schließlich gelang. Er erfuhr vom Bündnis des Einen Auges und von den Dingen, die einst geschehen waren, und rief die Bruderschaft erneut ins Leben. Diesmal jedoch bediente sie sich nicht einzelner Persönlichkeiten, um ihre Ziele durchzusetzen, sondern nutzte die Mittel der neuen Zeit. Ein Netz von Bündnissen wurde geschlossen, Intrigen geschmiedet, Menschen ohne ihr Wissen manipuliert und benutzt.«
»Menschen wie Gardiner Kincaid«, sagte Sarah leise.
»Ja«, bestätigte Hieronymos, »aber die neu gegründete Bruderschaft beließ es nicht dabei. Die Arimaspen wurden gejagt und verfolgt. Wer sich der Bruderschaft nicht ergab und in ihre Dienste trat, der wurde getötet. Zum Schein haben die Letzten von uns schließlich eingewilligt. In Wahrheit jedoch ging unser Widerstand weiter, und wir haben die Bruderschaft bekämpft.«
»So, wie die Zyklopen, die mir geholfen haben«, ergänzte Sarah nachdenklich. Immer wieder hatte sie in der Vergangenheit Begegnungen mit Einäugigen gehabt, die ihr hilfreich zur Seite gestanden hatten, auch wenn sie ihnen zunächst misstraut hatte - von jener geheimnisvollen Gestalt, der sie in den Katakomben von Alexandrien begegnet war, bis hin zu ihrem treuen Beschützer Polyphemos, den die Gräfin Czerny hatte töten lassen.
»Meine Brüder sind für ihre Überzeugung in den Tod gegangen«, sagte Hieronymos leise. »Ich bin als Einziger noch am Leben. Der Letzte der Zyklopen, der Letzte meiner Art.«
»Und die anderen?«, fragte Sarah. »Was ist mit den Einäugigen, die in den Diensten der Bruderschaft stehen?«
»Sie sind nicht von unserem Blut. Die Verräter von einst sind längst nicht mehr. Die Wächter der Bruderschaft sind ohne Ausnahme das Ergebnis jener frevlerischen Manipulation, deren Spuren Sie gesehen haben.«
»Allerdings«, bestätigte Sarah, die noch immer Übelkeit verspürte, wenn sie an die Menagerie dachte. »Aber warum tut die Bruderschaft so etwas Schreckliches?«
»Die falschen Erben wissen, was damals geschehen ist, und wollen die Nachfolge der Ersten antreten. Dazu gehört auch, dass sie sich mit Dienern umgeben, die das Zeichen des Einen Auges tragen - auch wenn sie bloß eine Nachäffung der Schöpfung sind, entstellt an Körper und Seele. Die meisten wissen nicht einmal mehr, was sie einst waren, haben den Verstand verloren angesichts der Dinge, die ihnen zugefügt wurden. Aber sie sind der Bruderschaft treu ergeben und würden alles tun, um ihr zum Sieg zu verhelfen.«
Sarah nickte. Nach allem, was sie selbst gesehen und erlebt hatte, konnte sie dies nur bestätigen. »Dein Volk musste in der Vergangenheit so viel erdulden, Hieronymos«, sagte sie leise. »Wie kommt es, dass ihr den Kampf dennoch niemals aufgegeben und den Ersten weiter die Treue gehalten habt?«
Hieronymos blieb stehen. Erneut wandte sich der Zyklop zu ihr um, und der Blick, den er ihr sandte, war tief und unergründlich wie ein Ozean. »Weil, Lady Kincaid«, entgegnete er leise, »das einzelne Auge auf unserer Stirn uns stets daran erinnert hat, wozu wir ausersehen sind. Und unser Glaube war stark genug, die Zeit zu überdauern.«
»Euer Glaube? Woran?«
»Dass die rechtmäßigen Erben eines Tages zurückkehren würden«, erwiderte der Einäugige schlicht, während er sich umwandte und weiterging. »Dass sie die Verräter bestrafen und den Ersten
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