Das Licht von Shambala
der Zyklop zu.
»Dann wünsche ich, dass er am Leben bleibt«, erklärte Sarah, worauf sich der Hüne widerspruchslos bückte und den Bewusstlosen hochhob, um ihn sich wie ein Stück Holz über die Schulter zu laden. Das zusätzliche Gewicht schien er nicht einmal zu bemerken.
»Kommen Sie«, forderte er Sarah und Hingis dann auf, »ich bringe Sie nach draußen.«
»Und dann?«, fragte Hingis keck. »Wieso sollten wir Ihnen vertrauen?«
»Vielleicht, weil ich Ihnen gerade das Leben gerettet habe, Doktor.«
»Mit Verlaub, das könnte auch eine Finte gewesen sein. Immerhin hatten wir auch schon mit Abkömmlingen Ihrer Spezies zu tun, die uns nicht sehr freundlich gesonnen waren.«
»Nicht in diesem Fall«, versicherte Hieronymos. »Ich bin auf Ihrer Seite. Wenn Sie am Leben bleiben wollen, dann folgen Sie mir. Wenn Sie sterben möchten, Doktor, dann bleiben Sie. Es ist Ihre Entscheidung.«
Hingis gab ein Schnauben von sich, das deutlich machte, dass ihm keine der beiden Optionen besonders gefiel. Sarah, die sich in der Zwischenzeit gesammelt und ihren Revolver vom Boden aufgelesen hatte, war anderer Ansicht.
»Er hat recht, Friedrich«, stimmte sie dem Einäugigen zu. »Wenn er uns hätte schaden wollen, hätte er das längst tun können. Zudem würde er uns wohl kaum unsere Waffen lassen.«
»Zugegeben«, gestand Hingis widerwillig ein, während er den Hünen weiter misstrauisch beäugte. »Aber wenn er auf unserer Seite ist, wieso ist er dann hier? Und warum sagt er uns nicht, was für ein höllischer Ort dies ist?«
»Weil wir dazu keine Zeit haben, Doktor«, eröffnete Hieronymos schlicht. »Während Sie hier unten waren, hat eine Abteilung des russischen Militärs bereits Ihr Lager überfallen und Ihre Freunde gefangen genommen.«
»Was?« Sarah schnappte entsetzt nach Luft.
»In diesem Augenblick ist vermutlich bereits ein Stoßtrupp auf dem Weg hierher«, bekräftigte der Zyklop. »Natürlich können wir uns weiter streiten, aber ich denke nicht, dass wir uns lange gegen eine Dutzendschaft Kosaken werden behaupten können.«
»Kosaken, russisches Militär«, echote Sarah - und schon im nächsten Moment hatte sie nicht mehr den leisesten Zweifel, wem sie diesen nächtlichen Überfall verdankten.
Abramowitsch ...
8.
Der Weg, auf dem der Zyklop sie zurück zur Oberfläche führte, war ein anderer als der, auf dem sie hereingelangt waren. Eine verwirrende Vielfalt an Höhlen und Stollen schien den Berg zu durchziehen, von denen sich manche hinter schmalen Nischen und Felsspalten verbargen und sich nur dem Eingeweihten offenbarten. Hieronymos schien keine Schwierigkeit zu haben, sich in dem dunklen Labyrinth zurechtzufinden, in dem Sarahs und Hingis' Fackeln unstetes Licht verbreiteten; mit traumwandlerischer Sicherheit ging er voraus.
Zu Beginn ihrer Wanderschaft sprach niemand ein Wort. Sowohl Sarah als auch ihr Begleiter standen noch unter Schock. Zu lebendig stand ihnen noch die grausige Menagerie des Todes vor Augen, zu überraschend war die Begegnung mit dem Einäugigen gewesen, zu bestürzend, was er ihnen enthüllt hatte. Erst nach und nach erwachte Sarahs Verstand wieder aus der Lethargie und begann Fragen zu stellen. Und als sie selbst keine Antwort darauf fand, brach sie das Schweigen und sprach sie laut aus:
»Du hast auf uns gewartet?«, fragte sie den Zyklopen, der ihnen vorausging und seine hünenhafte Gestalt beugen musste, um den Stollen zu passieren.
»In der Tat. Ich wusste, dass Sie kommen würden, Lady Kincaid.«
»Woher?«
»Weil sowohl Polyphemos als auch ich keinen Augenblick daran gezweifelt haben, dass es Ihnen möglich wäre, den Hinweisen zu folgen, die wir Ihnen gegeben haben.«
»Hinweise?«, schnappte Hingis. »So würde ich es wohl kaum bezeichnen! Es hat nicht viel gefehlt, und wir hätten den Text, der in dem Codicubus versteckt war, nicht einmal entdeckt!«
»Aber Sie haben ihn entdeckt, nicht wahr?«, konterte der Zyklop, während er unbeirrt weiterging. »Bei allem, was wir unternahmen, mussten wir sehr vorsichtig sein. Wir haben alles getan, um dafür zu sorgen, dass die Informationen im Codicubus von niemand anderem als Ihnen verstanden werden können, Lady Kincaid. Wäre sein Inhalt in falsche Hände geraten, wäre das Geheimnis gewahrt geblieben. Und wie sich herausgestellt hat, war diese Vorsichtsmaßnahme mehr als notwendig ...«
Sarah war klar, worauf der Einäugige anspielte - Viktor Abramowitsch ...
»Stehen die Russen auf der Seite der
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