Das Licht von Shambala
nachfolgen würden, so, wie es unseren Vorvätern einst geweissagt wurde.«
»Eine Weissagung?«, fragte Hingis, der ihm mit wieselflinken Schritten hinterhereilte. »Sie meinen eine Prophezeiung?«
»Ganz recht, Doktor, gegeben von den Ersten, ehe sie die Festung auf den Gipfeln verließen und verbannt wurden in die Welt der Sterblichen.«
»Die Festung auf den Gipfeln«, echote Sarah nachdenklich. Die Worte weckten Assoziationen in ihr - zum einen mit dem Traum, den sie vor einiger Zeit gehabt und in dem sie für einen kurzen Augenblick das Gefühl hatte, die Schleier des Vergessens würden sich lüften. Zum anderen aber auch mit dem, was der Codicubus enthalten hatte. Die rätselhafte Zeichnung tauchte vor ihrem geistigen Auge auf: ein zur geometrischen Form stilisierter Berg mit einem Turm darauf, dazu das Wasser des Lebens ...
Eine Frage formte sich auf ihren Lippen, aber sie sprach sie nicht aus, weil ihre Wanderung durch den Berg im nächsten Moment endete. Jäh mündete der Stollen in eine Kammer, die kreisrund war und eine kuppelförmige Decke besaß, in deren Zenit sich eine vergitterte Öffnung befand. Darüber war ein mit grauen Wolken befleckter Nachthimmel zu sehen.
»Der Ausstieg«, erklärte Hieronymos überflüssigerweise. »Er befindet sich auf der anderen Seite des Berges, unweit der Straße nach Sewastopol. Die Einheimischen halten ihn für einen alten Brunnenschacht.«
»Danke, Hieronymos«, sagte Sarah, »du hast uns das Leben gerettet.«
»Ich habe nur getan, was meine Pflicht war.«
»Und nun?«
»Wenn Sie die Hinweise richtig gedeutet haben, so wissen Sie längst, was zu tun ist.«
»Ich muss das dritte Geheimnis finden und entschlüsseln, ehe die Bruderschaft es tut«, sagte Sarah leise. »Aber wo finde ich es? Wohin führt mich diese Suche?«
»Auch das wissen Sie bereits. Sie müssen nur Ihrer Intuition vertrauen!«
»Der Berg Meru«, flüsterte Sarah in Erinnerung an all das, was sie von el-Hakim erfahren hatte. »Dort befindet sich das dritte Geheimnis, richtig?«
»In der Tat«, bestätigte der Zyklop.
»Also ist es der Berg, den die Bruderschaft sucht?«
»Nein.« Hieronymos schüttelte den Kopf. »Sie hat ihn längst gefunden.«
»Was?« Sarah fühlte blankes Entsetzen.
»Unter Folter haben einige meiner Brüder das Geheimnis preisgegeben«, fuhr der Einäugige fort. »Aber zu wissen, wo sich das dritte Geheimnis befindet, bedeutet noch längst nicht, seiner habhaft zu werden. Noch ist es den Schergen des Einen Auges nicht gelungen.«
»Dann weißt du, wo sich der Berg Meru befindet?«
Der Zyklop nickte. »Alle Brüder meines Volkes wussten es einst, denn dort nahm alles seinen Anfang. Weit im Osten, jenseits der Großen Berge, auf dem Dach der Welt.«
»Auf dem Dach der Welt?«, fragte Hingis nach, der im flackernden Schein seiner Fackel von einem zum anderen blickte. »Sprechen wir vom Himalaya? Von Tibet ...?«
»Dort nahm alles seinen Anfang«, wiederholte der Zyklop.
»Und du kennst den genauen Weg?«, erkundigte sich Sarah. »Du könntest ihn mir beschreiben?«
»Ja, Mylady. Ich bin bereits dort gewesen, vor vielen Jahren.«
»Aber das ist doch blanker Unfug!«, ereiferte sich Hingis. »Tibet ist Tausende von Meilen entfernt und wird nicht von ungefähr ›verbotenes Königreich‹ genannt. Die Bewohner schotten sich seit Jahrhunderten von der Außenwelt ab, und wie es heißt, wird jedem Ausländer, der das Land unbefugt betritt, ohne Federlesens der Garaus gemacht.«
»Ich habe davon gehört«, versicherte Sarah. »Dennoch scheint dies der einzige Weg zu sein. Der Weg zum Berg Meru - und damit auch zu Kamal.«
»Unsinn«, widersprach der Schweizer. »Wir wissen ja noch nicht einmal, ob er dort ist.«
»Er ist dort«, sagte Hieronymos hart. »Die verräterische Gräfin hat seinen Geist verwirrt und sein Herz gewonnen.«
Sarah verspürte einen schmerzhaften Stich im Herzen. »Ich muss zu ihm«, bekräftigte sie mit bebender Stimme. »Wirst du mich führen, Hieronymos?«
»Ja, Mylady.«
»Dann werden wir rasch eine Expedition nach Osten ausrüsten. Vorher müssen wir unsere Gefährten aus der Gewalt dieses verräterischen Russen befreien. Wirst du uns auch dabei helfen?«
»Mylady«, erwiderte der Zyklop, und ein Lächeln huschte über seine einäugigen Züge, was an sich schon ein bemerkenswerter Anblick war, »natürlich werde ich Ihnen helfen, schon weil der Schwur mich bindet, den ich einst geleistet habe.«
»Welcher Schwur?« Sarah hob die
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